Interstitielle Deletion auf Chromosom 10 mit Mikrogenitalien und Gynäkomastie

Takeshi MATSUISHI*


*National University, Yokohama

Zusammenfassung
Wir beschreiben einen 18-jährigen Mann mit einer interstitiellen Deletion des langen Arms von Chromosom 10: del(10) (q11.23 q22.1) und abnormaler Geschlechtsentwicklung, die sich durch Dysplasie der Geschlechtsorgane, fehlende Achselbehaarung und spärliche Schambehaarung sowie einen weiblichen Körperbau mit beidseitiger Gynäkomastie äußerte. Zu den weiteren klinischen Befunden gehören in Übereinstimmung mit anderen Berichten eine schwere mentale Retardierung und leichtere Anomalien. Bei einer Literaturdurchsicht fanden sich 12 weitere Fälle einer interstitiellen Deletion auf Chromosom 10; bei dreien wurden Merkmale einer abnormalen männlichen Geschlechtsentwicklung erwähnt. Wir kommen daher zum Schluss, dass ein Zusammenhang zwischen Chromosom 10 und einer abnormalen männlichen Geschlechtsentwicklung besteht.

EINLEITUNG
Bei der Festlegung des männlichen oder weiblichen Geschlechts kommt es primär auf das Vorhanden- bzw. Nicht-Vorhanden-Sein der geschlechtsbestimmenden Region auf dem Y-Chromosom (SRY) an. In letzter Zeit legten mehrere Fälle mit chromosomalen Aberrationen und beeinträchtigter Geschlechtsentwicklung den Schluss nahe, dass auf dem X-Chromosom und anderen Autosomen Gene vorkommen, die für die Determinierung des männlichen Geschlechts notwendig sind. In mehreren Fällen wurde von einer Beeinträchtigung der männlichen Geschlechtsentwicklung sowie Monosomie 9p berichtet (Ogata et al. 1997). Ebenso scheint eine terminale 10q-Deletion mit einer abnormalen Entwicklung der männlichen Genitalien zusammenzuhängen (Wilkie et al. 1993). Im vorliegenden Fall geht es um einen Patienten mit einer de novo interstitiellen Deletion (10)(q21), der sich mit Hypogonadismus vorstellte. Die Merkmale anderer veröffentlichter Fälle einer interstitiellen 10q-Deletion werden ebenfalls besprochen.

FALLBERICHT
Der Proband wurde in der 39. Schwangerschaftswoche geboren, Mutter 32, Vater 33 Jahre alt und nicht blutsverwandt. Der Patient hat zwei ältere Brüder, die körperlich und geistig normal sind. Schwangerschaft und Entbindung verliefen unauffällig, abgesehen von einer leichten Zyanose, die post partum festgestellt wurde. Das Geburtsgewicht betrug 3300 g, das Kind war 50 cm groß, der Kopfumfang betrug 33 cm. In der Neugeborenenperiode wurde ein Torticollis nach rechts festgestellt, der nach 6 Monaten ohne Behandlung wieder verschwand. Die Meilensteine der Entwicklung traten mit Verzögerung auf. Der Kopf konnte mit 6 Monaten angehoben werden, laufen und sprechen mit 24 Monaten, konservative Behandlung, im Alter von 10 Jahren lagen keine Auffälligkeiten mehr vor. Der Patient litt auch unter Fieberkrämpfen, die im Alter von 2 Jahren erstmalig festgestellt wurden und sich bis zum Alter von 10 Jahren fortsetzten.
Bei der ärztlichen Untersuchung mit 18 Jahren wurden ein Gewicht von 55 kg, eine Größe von 162 cm und ein Kopfumfang von 55 cm gemessen. Mehrere kraniofaziale Dysmorphien wurden festgestellt. Es lag eine Plagiozephalie mit Stirnvorwölbung vor. Die Ohren waren groß und niedrig angesetzt und ein Strabismus divergens wurde festgestellt. Er hatte eine breite Nasenwurzel, eine gebogene Knollennase mit kleinen Nasenlöchern sowie ein großes und ausgeprägtes Philtrum. Weitere Gesichtsmerkmale waren eine herzförmige Oberlippe, Mikrognathie und ein flacher Kiefer (Abb. 1c). Der Patient präsentierte sich mit Mikrogenitalien. Die Penislänge betrug lediglich 4 cm. Beide Hoden waren kleiner als die Spitze des kleinen Fingers. Gesichts- und Achselbehaarung fehlten ganz, Schambehaarung war spärlich. Der Körperbau war weiblich, mit runden Schultern und beidseitiger Gynäkomastie. An den unteren Extremitäten wurde beidseitig Genu valgum und Pes planus sowie am linken Knie Genu recurvatum festgestellt. Die oberen Extremitäten waren leicht hypotonisch und zeigten eine leichte Muskelschwäche. Bei der Computertomographie wurden beidseitig kleine kalzifizierte Bereiche in der periventrikulären Region des Stirnhirnlappens diagnostiziert. Beim EEG wurde ein Basisrhythmus von 8-9 Hz mit vielen Thetawellen aufgezeichnet.
Der Patient präsentierte sich als freundlicher, fröhlicher und geselliger Mann. Er sprach in Zweiwortsätzen und zeigte ein relativ gutes Begriffsvermögen. Beim Tanaka-Binet-IQ-Test, der japanischen Version des Binet-Tests, erreichte er einen Wert von 20. Derzeit wohnt er bei seinen Eltern und arbeitet in einer Behindertenwerkstatt. Er ist in allen Dingen des täglichen Lebens unabhängig und benutzt öffentliche Verkehrsmittel.

ZYTOGENETISCHE UND MOLEKULARBIOLOGISCHE ANALYSE
Die mithilfe der G-Bänderung an 30 peripheren Blutlymphozyten durchgeführte Chromosomenanalyse ergab bei allen 30 Zellen eine interstitielle Deletion des Chromosoms 10q. Die Bruchpunkte wurden durch G-Bänderung mit hoher Auflösung identifiziert (Abb. 2), sodass wir den Karyotypen folgendermaßen beschreiben können: 46, XY, del(10) (q11.23q22.1). Die Chromosomen der Eltern waren normal. Die Erlaubnis zur Analyse der Chromosomen seiner Brüder wurde nicht erteilt.
Es wurden zwei FISH-Tests durchgeführt. Beim ersten wurde eine HK1-Sonde eingesetzt und folgender Karyotyp beschrieben: 46, XY, del(10) (q11.23q22.11).ish del(10) (HK1-).
Beim zweiten mit der wcp10-Sonde ergab sich folgender Karyotyp: 46, XY, del(10) (q11.23q22.1).ish del(10) (HK1-, wcp10+).
Das SRY-Gen wurde durch eine Polymerase-Kettenreaktion amplifiziert, kloniert und sequenziert und als normal befunden.

ENDOKRINOLOGISCHE UNTERSUCHUNGEN
Die Ergebnisse der endokrinologischen Untersuchung mit einer erhöhten FSH-Konzentration von 17 mIU/ml (Normalbereich 2,9-8,2 mIU/ml) stehen im Einklang mit einem Keimdrüsenversagen. Die LH-Konzentration betrug 5,0 mIU/ml (Normalbereich 1,8-5,2 mIU/ml). Der LH-Wert reagierte auf einen Standard-LHRH-Test mit einem merklichen Anstieg auf 43 mIU/ml. Der Basalwert des Testosteronspiegels betrug 561ng/dl (Normalbereich 250-1100 ng/dl).

Diskussion
Wir haben einen 18-jährigen Mann mit einer interstitiellen 10q-Deletion beschrieben, die mit einer psychomotorischen Retardierung, Hypotonie, Mikrogenitalien und Dysmorphien einherging. Etwa 12 Fälle einer interstitiellen Deletion 10q wurden beschrieben und werden in Tabelle 1 zusammengefasst. Häufige Befunde waren psychomotorische Retardierung, Hypotonie, Fehlbildung und Lageverschiebung der Ohren, Telekanthus oder Hypertelorismus und Herzgeräusche oder -fehler. Ein Vergleich dieser 12 Fälle mit unserem Fall zeigte keine ausreichend schlüssigen Merkmale, die ein erkennbares klinisches Syndrom nahe legen würden. Ebenso konnte keine Korrelation zwischen der Größe der Chromosomendeletion und der Schwere des klinischen Bildes und/oder den größeren Missbildungen festgestellt werden. Sechs Fälle, einschließlich unserem, betreffen die q11-Region, wobei nur zwei Merkmale bei allen 6 Fällen auftreten - Hypotonie und niedrig angesetzte und/oder fehlgebildete Ohren.

Table 1.

Characteristic

Present case

Ray et al.(1981)

Lobo et al.(1992)

Holden et al.(1985)

Zenger-Hain et al.(1993)

Shapiro et al.(1985)A

Davis et al.1988)

Mori et.(1988)

Glover et al.(1987)

Farell et al.(1993)

Shapiro et al.(1985)B

Van de Vooren et al.(1984)

Rooney et al.(1989)

Breakpoint

q11.23q22.11

q11q12

q11.1q22.1

q11.2q21

q11.2q22.1

q11.2q22.1

q21q22

q22q24

q22q24

q22.3q23.2

q22.4q24

q24.2q25.3

q25.2q26.1

Growth retardation

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Psychomotor retardation

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Hypotonia

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+

+

+

+

+

+

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+

Cranial shape

Plagiocephaly

Plagiocephaly

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-

-

-

-

Macrocephaly

Plagiocephaly

Dolichocephaly

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Microcephealy

Broad forehead/Frontal bossing

+

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+

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+

+

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+

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-

+

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Hypertelorism/Telecanthus

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+

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+

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Strabismus

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+

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Upslant palpebral fissures

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Broad/Flat nasal bridge

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Anteverted nares

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Prominent/Long philtrum

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Lowset/Malformed ears

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Thin/Cupid bow upper lip

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?

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High arched palate

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Cleft palate

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Micrognatia

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Widespaced/Hypoplastic nipples

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Spinal deformity

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Pectus excavatum

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Sacral dimple

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Microgenitalia

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Cryptorchidism

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Hypoplastic labia majora

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Bifid uvula

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Vesicourethral reflex

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Rectal prolapse

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Umbilical/Hiatal hernia

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Clinodactyly

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Equinovarus/Planovalgus

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Joint limitation

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Joint deformity

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+

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Heart defect

VSD

Murmur

VDS

-

Murmur

VSD

Murmur

Murmur

Murmur

Murmur

VSD

-

-


Die Produktion des männlichen Phänotyps hängt von zwei Hormonen aus den Hoden ab - das von den Sertolizellen produzierte Anti-Müller-Hormon und das von den Leydigzellen produzierte Dihydrotestosteron, die zur Virilisierung der äußeren Geschlechtsorgane führen. Unser Fall hatte einen Mikropenis und kleine Hoden. Die Ergebnisse der endokrinologischen Untersuchung standen im Einklang mit einem Keimdrüsenversagen. Dieser Befund legt den Schluss nahe, dass die Gonadenfehlentwicklung nach der Produktion von Anti-Müller-Hormon und Testosteron auftrat und nach der kritischen Periode einer unzureichenden Androgenproduktion erfolgte, die zu verringerter Virilisation der äußeren Geschlechtsorgane führte.
In letzter Zeit haben verschiedene Studien die Bedeutung der Gene auf dem X-Chromosom und auf Autosomen für die Bestimmung des männlichen Geschlechts behandelt. Vier bekannte Fälle interstitieller Deletion auf Chromosom 10, einschließlich unserem, erwähnen Anomalien in der männlichen Geschlechtsentwicklung. Van de Vooren et al. (1983) berichten von einem 5-jährigen Jungen mit beidseitigem Kryptorchismus, Ray et al. (1980) von einem Einjährigen mit einem kleinen Penis, und Farrell et al. (1993) von einem 9 Monate alten Jungen mit einem kleinen Penis. Ebenso wurden terminale Deletionen auf Chromosom 10 immer wieder mit einer abnormalen Entwicklung der männlichen Geschlechtsorgane in Verbindung gebracht, von einer kompletten Geschlechtsumwandlung bis zu Mikropenis und Kryptorchismus (Wilkie et al. 1993, Zatterale
et al. 1984, Teyssier et al. 1992). Aus unserer Studie schließen wir, dass auch interstitielle Deletionen auf Chromosom 10 mit einer abnormalen Entwicklung der männlichen Geschlechtsorgane einhergehen. Damit erhärten sich die Hinweise darauf, dass Autosome beim komplizierten Prozess der Geschlechtsentwicklung eine Rolle spielen.


LITERATURVERZEICHNIS

Farrell SA, Szymonowicz W, Chow G, et al.: Interstitial deletion of chromosome 10q23:a new case and review. J Med Genet1993:30:248-50.
Glover G, Gabarron J, Lopez Ballester JA.:De novo 10q(q21q22) interstitial deletion.Hum Genet 1987;76:205.
Holden JJ, MacDonald EA.:Brief clinical report: interstitial deletion of the long arm of chromosome 10: del(10)(q11.2q21).Am J Med Genet 1985;20:245-248.
Lobo S, Cervenka J, London A, et al.:Interstitial deletion of 10q: clinical features and literature review.Am J Med Genet 1992;43:701-3.
Mori MA, Gomez-Sabrido F, Diaz de Bustamante A, Pinel I, Martinez-Frias ML.: De novo 10q23 interstitial deletion. J Med Genet;1988;25:209-210.
Ogata T, Muroya K, Matsuo N, et al.:Impaired male sex development in an infant with molecularly defined partial 9p monosomy: implication for a testis forming gene(s) on 9p.J Med Genet 1997;34:331-4.
Ray M, Hunter AG, Josifek K: Interstitial deletion of the long arm of chromosome 10.Ann Génét 1980;23:103-4.
Shapiro SD, Hansen KL, Pasztor LM, DiLiberti JH, Jorgenson RJ, Young RS, Moore CM.:Deletions of the long arm of chromosome 10.Am J Med Genet1985;20:181-196.
Rooney DE, Williams K, Coleman DV, Habel A.: A case of interstitial deletion of 10q25.2----q26.1.J Med Genet 1989;26:58-60.
Van de Vooren MJ, Planteydt HT, Hagemeijer A, et al.:Familial balanced insertion (5; 10) and monosomy and trisomy (10) (q24.2----q25.3).Clin Genet 1984;25:52-8.
Wilkie AO, Campbell FM, Daubeney P, et al. Complete and partial XY sex reversal associated with terminal deletion of 10q: report of 2 cases and literature review. Am J Med Genet.1993;46:597-600.
Zenger-Hain JL, Roberson J, Van Dyke DL, Weiss L.: Interstitial deletion of chromosome 10, del(10) (q11.2q22.1) in a boy with developmental delay and multiple congenital anomalies.Am J Med Genet1993;46:438-440.

(ursprünglich erschienen im Journal of Disability and Medico-Pedagogy, Vol 13, 2006)

[Chromosom]