Chromosom-9p-Syndrom mit Mikrogenitalien

Takeshi MATSUISHI, Anne MILLAR


Yokohama National University
Fakultät für Erziehung und Humanwissenschaften
Abteilung für Heilpädagogik


ZUSAMMENFASSUNG
Wir berichten von einem 18-jährigen Mann mit Monosomie 9p. Zu den klinischen Merkmalen gehören Mikrogenitalien, mentale Retardierung mit Mikrozephalus und dysmorphen Merkmalen, die mit denen des 9p-Syndroms übereinstimmen. Endokrinologische Untersuchungen ergaben ein Keimdrüsenversagen mit erhöhten FSH- und LH-Konzentrationen sowie einen niedrigen Testosteronspiegel. Die Untersuchungsergebnisse des SRY-Gens waren normal und untermauern den Vorschlag früherer Berichte, dass es ein an der Frühentwicklung der Hoden beteiligtes Gen auf 9p gibt. Außerdem wird erstmalig bei einem 9p-Syndrom von einer Agenesie des Corpus callosum berichtet.

EINLEITUNG
Monosomie 9p ist ein gut dokumentiertes chromosomales Syndrom, das hautsächlich durch psychomotorische Retardierung, Trigonozephalie, flache Nasenwurzel, langes Philtrum sowie kurzer, breiter Hals und Pterygium colli charakterisiert wird. Wegen der Häufigkeit einer beeinträchtigten Geschlechtsentwicklung bei genetisch männlichen Patienten mit 9p-Syndrom wird vermutet, das es auf dem distalen Teil von 9p:9p24 ein Gen für die Hodenbildung gibt (Hoo et al. 1989). In diesem Papier stellen wir einen erwachsenen Mann mit 9p-Syndrom, einschließlich Mikrogenitalien, vor. Wir beschreiben die Ergebnisse zytogenetischer, molekularbiologischer und endokrinologischer Studien und werten die Literatur zur Beteiligung des Chromosoms 9p an der Hodenentwicklung aus.

FALLBERICHT
Ein 18-jähriger Mann ist das dritte Kind gesunder und nicht verwandter Eltern. Mutter und Vater waren bei der Geburt 28 und 31 Jahre alt. Der Proband hat ältere Zwillingsschwestern, die beide gesund sind. Eine dritte Schwangerschaft wurde durch einen geplanten Abbruch beendet. Der Proband wurde in der 42. Schwangerschaftswoche nach einer unauffälligen Schwangerschaft geboren. Das Geburtsgewicht lag bei 4000 g, er war 53 cm groß, der Kopfumfang betrug 37 cm. Die Meilensteine der Frühentwicklung waren leicht verzögert: er konnte mit 6 Monaten seinen Kopf heben, mit 8 Monaten sitzen und mit 15 Monaten laufen. In der Anamnese wird ein unvollständiger Hodenabstieg erwähnt, was sich jedoch spontan regulierte. Der Proband besuchte sowohl in der Grundschule als auch in der Mittelstufe eine Förderschule. Die Oberstufe absolvierte er an einer Sonderschule.
Bei der Untersuchung mit 18 Jahren erreichte er beim Tanaka-Binet-Intelligenztest, der japanischen Version des Binet-Tests, einen Wert von 30. Sein Kopfumfang betrug 56 cm. Unter anderem wurden folgende morphologische Anomalien festgestellt: Pterygium colli, flaches Okziput, breite Nasenwurzel, Antetorsion der Nasenlöcher, schmale Augenlidschlitze, Hypertelorismus und Epikanthusfalten. Sein Mund war klein und durch eine hervorstehende Unterlippe, dünne Oberlippe dünn und einen hohen gebogener Gaumen gekennzeichnet. Die Ohren waren niedrig angesetzt und hatten abnormale Läppchen. Weitere dysmorphe Merkmale waren das lange Philtrum, Mikrognathie und Retrognathie (Abb. 1, 2)*. Er hatte eine Brustkyphose und ein langes Mittelglied. Mikrogenitalien waren durch einen kleinen Penis gekennzeichnet (4 cm im gestreckten Zustand), kleine Hoden und spärliche Schambehaarung.
Die neurologischen Befunde ergaben Hypotonie, Intentionstremor, Dysarthrie und übertriebene tiefe Sehnenreflexe, vor allem links. Ein CT ergab eine Agenesie des Corpus callosum.

* Abb. 1 und 2 sind auf Anfrage als Nachdruck erhältlich.

ENDOKRINOLOGISCHE UNTERSUCHUNGEN
Endokrinologische Untersuchungen wiesen mit einer erhöhten FSH-Konzentration von 40 mIU/ml (Normalbereich 2,9-8,2 mIU/ml) und einer LH-Konzentration von 14 mIU/ml (Normalbereich 1,8-5,2 mIU/ml) auf Keimdrüsenversagen hin. Nach einer LHRH-Stimulierung wurde eine normale Reaktion des LH-Wertes beobachtet, er stieg auf einen Basalwert von 79 mIU/ml an. Ebenso wurde nach einer LHRH-Stimulierung eine normale Reaktion des FSH-Wertes beobachtet, der auf 84 mIU/ml anstieg. Die Testosteronkonzentration betrug 307 ng/dl (Normalbereich 250-1100 ng/dl).

ZYTOGENETISCHE UND MOLEKULARBIOLOGISCHE ANALYSE
Bei einer an 20 kultivierten Lymphozyten mit hochauflösender Bänderung durchgeführten Chromosomenanalyse stellten wir ein abnormales Chromosom 9 mit einer terminalen Deletion des kurzen Armes fest - 46, XY, del(9)(p22.3). Die FISH-Methode bestätigte, dass keine Translokation vorlag, und ergab: 46, XY, del (9)(p22.3).ish del (9)(wcp9+). Die Chromosomen der Eltern waren normal. Das SRY-Gen wurde durch eine Polymerase-Kettenreaktion amplifiziert, kloniert und sequenziert und es wurde keine Mutation gefunden (Sinclair et al.1990, Koopman et al. 1991, Reijo et al. 1995).

DISKUSSION
Der Fall präsentierte sich mit Mikropenis und unterentwickelten Hoden sowie für das 9p-Syndrom typischen dysmorphen Merkmalen. Eine endokrinologische Analyse wies auf Keimdrüsenversagen und nicht auf eine Funktionsstörung von Hypothalamus und Hypophyse hin. Es kann angenommen werden, dass die hypoplastischen Hoden nicht genügend Androgen produzieren konnten, was zu Mikrogenitalien führte.
Der Fall ähnelt den berichteten Fällen dreier genetisch männlicher Patienten mit 9p und beeinträchtigter männlicher Geschlechtsentwicklung. Monaghan et al. (1981) beschrieben einen 20 Monate alten Jungen mit einem kleinen Penis, teilweise abgestiegenen Hoden und unterentwickeltem Skrotum. Auch die Ergebnisse der endokrinologischen Analyse stimmten mit einer primären Funktionsstörung der Keimdrüsen überein. Kadotani et al. (1984) veröffentlichten den Fall eines 8-jährigen Jungen mit Kryptorchismus, kleinem Penis, hypoplastischem Skrotum und Hypospadie. Schließlich beschrieben Szymansky et al. (1984) einen 10 Monate alten Jungen mit einem kleinen Penis. Hoo et al. (1989) vermuten, dass ein rezessives Gen auf 9p24 bei der Frühentwicklung der Hoden eine wichtige Rolle spielt; bei den 4 oben erwähnten Fällen lag eine Monosomie 9p24 vor.
Bei der Beeinträchtigung der männlichen Geschlechtsentwicklung in Fällen von 9p wurde von vielen verschiedenen Formen berichtet. Abnormale Genitalien, von kompletten Geschlechtsumwandlungen (Bennett et al. 1993) über nicht eindeutige Genitalien (Ogata et al. 1997) bis zu Mikrogenitalien (Monaghan et al. 1981), wurden bei etwa 70 % der Patienten mit einer Deletion 46 XY 9p erwähnt. Diese große Bandbreite hängt möglicherweise mit dem Zeitpunkt des Einflusses des defekten Gens während der kritischen Zeit der Hodenentwicklung zusammen. Es wurde vermutet, dass eine fehlerhafte Androgenproduktion während der kritischen Phase im Allgemeinen zu weiblichen oder nicht eindeutigen äußeren Geschlechtsorganen führt, während eine fehlerhafte Androgenproduktion nach der kritischen Phase meist männliche äußere Geschlechtsorgane mit Mikrogenitalien zur Folge hat (Ogata et al.1997).
Obwohl immer mehr Berichte über das 9p-Syndrom und beeinträchtigte männliche Geschlechtsentwicklung die These unterstützen, dass 9p in der frühen Entwicklungsphase der Hoden eine Rolle spielt; welche Mechanismen jedoch zur beeinträchtigten Geschlechtsentwicklung führen, bleibt weiterhin unklar. Mit Hinblick auf die Genetik wurde eine Haploinsuffizienz als möglicher Ansatzpunkt vorgeschlagen (Veitia et al. 1997). Bei einer Haploinsuffizienz sieht man häufig eine große Bandbreite von Phänotypen. Man geht außerdem davon aus, dass die Entwicklungsabläufe besonders empfänglich für Haploinsuffizienz sind (Fisher & Scambler 1994). Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass eine Haploinsuffizienz allein das große Spektrum der Geschlechtsentwicklung bei 9p-Fällen erklären kann; möglicherweise sind sowohl genetische als auch nicht-genetische Faktoren für dieses Phänomen verantwortlich. Zwei weitere, in diesem Zusammenhang erwähnte mögliche Mechanismen sind die präzygotische Mutation des hodenbildenden Gens auf dem normalen 9p-Chromosom und die postzygotische somatische Mutation des normalen 9p-Gens bei der Entwicklung von Hodenzellen (Ogata et al. 1997).
Die Autoren möchten besonders den bisher noch nicht beobachteten Befund der Agenesie des Corpus callosum betonen. Es wurde bisher nur ein einziger Zusammenhang zwischen einer Anomalie des Corpus callosum und 9p beobachtet: eine Atrophie des Corpus callosum im Fall einer 9p-Trisomie (Stern 1996).


Literaturverzeichnis

Bennett C.P., Docherry Z., Robb S.A., Ramani P., Hawkins J.R.& Grant D.(1993) Deletion 9p and sex reversal. Journal of Medical Genetics 30, 518-20.
Fisher E.& Scambler P.(1994) Human haploinsufficiency-one for sorrow, two for joy. Nature Genetics 7,5-7.
Hoo J.J., Salafsky I.S., Lin C.C.& Pinsky L.(1989) Possible location of a recessive testis formation gene on 9p24. American Journal of Human Genetics(Suppl.) 45:A78.
Kadotani T., Watanabe Y.& Kurose Y (1984) A case of partial monosomy for the short arm of the chromosome No.9. Proceedings of Japan Academy 60,24-7
Koopman P., Gubbay J., Vivian N., Goodfellow P.& Lovell-Badge R.(1991) Male development of chromosomally female mice transgenic for Sry. Nature 351,117-21.
Monghan H.P. & Howard N.J.(1981) Short stature and microgenitalia in the 9p-syndrome. Irish Journal of Medical Science 150,382-4.
Ogata T., Muroya K., Matsuo N., Hata J.& Fukushima Y.(1997) Impaired male sex development in an infant with molecularly defined partial 9p monosomy: implication for a testis formation gene(s) on 9p. Journal of Medical Genetics 34,331-4.
Reijo R., Lee T.Y., Salo P., Alagappan R., Brown L.G., Rosenberg M., Rozen S., Jaffe T.,Straus D., Hovatta O. de la Chapelle A., Silber S.& Page D.C.(1995) Diverse spermatogenic defects in humans caused by Y chromosome deletions encompassing a novel RNA-binding protein gene. Nature Genetics, 10,383-93.
Sinclair A.H.. Berta P., Palmer M.S., Hawkins J.R., Griffiths B.L., Smith M.J., Foster J.W., Frischauf A.M., Lovell-Badge R.& Goodfellow P.N.(1990) A gene from the human sex-determining region encodes a protein with homology to a conserved DNA-binding motifs. Nature 346,240.
Stern J.M.(1996) The epilepsy of trisomy 9p. Neurology 47,821-4.
Szymanska J., Gutkowska A., Kubalska J., Krajewska-Walasek M.& Wisniewski L.(1984) 9p-syndrome:two new observation. Klinishe Padiatrie 196,121.
Veitia R., Nunes M., Brauner R., Doco-Fenzy M., Joanny-Flinois O., Jaubert F., Lortat-Jacob S., Fellous M. & McElreavey K.(1997) Deletion of Distal 9p associated with 46,XY male to female sex reversal: Definition of the breakpoint at 9p23.3-p24.1. Genomics 41, 271-4.
(ursprünglich erschienen im Journal of Disability and Medico-Pedagogy, Vol 13, 2006)

[Chromosom]