Ringchromosom-13-Syndrom bei einem erwachsenen Mann mit leichter mentaler Retardierung
Takeshi MATSUISHI1), Anne MILLAR2), Tetsuaki YAMAGUCHI3), Keiko ENDO3)
1) Yokohama National University, Fakultät für
Erziehung und Humanwissenschaften, Abteilung für Heilpädagogik
2) Yokohama
Rehabilitation Centre, Abteilung für Rehabilitation
3) Yokohama City
University, Medizinisches Institut, Abteilung für Psychiatrie
ZUSAMMENFASSUNG
Der Fall eines
18-jährigen Mannes mit Ringchromosom-13-Syndrom wird mit Schwerpunkt auf die
mentale Retardierung vorgestellt. Das klinische Bild wurde gekennzeichnet durch
leichte mentale Retardierung, Mikrozephalus, große, niedrig angesetzte Ohren,
eine breite Nasenwurzel, Epikanthus, Mikrognathie und ein kurzes Philtrum. Nach
Durchsicht der Literatur in Hinblick auf mentale Retardierung kamen wir zu dem
Ergebnis, dass die Beschreibungen der mentalen Retardierung oft ungenau und
manchmal mehrdeutig waren. Außerdem gibt es im Gegensatz zur charakteristischen
Beschreibung des Ringchromosom-13-Syndroms mit deutlicher mentaler Retardierung
eine kleine Anzahl von Fällen mit lediglich leichter mentaler
Retardierung.
Schlüsselwörter: chromosomale Anomalie, mentale
Retardierung, Ringchromosom-13-Syndrom
EINLEITUNG
Die durch Ringchromosomen verursachten klinischen
Merkmale sind vielfältig. Es ist behauptet worden, dass beim Ringchromosom 13
die wenigsten klinischen Schwankungen auftreten (Martin et al. 1982), und seit
der ersten Beschreibung durch Le Jeune et al. 1968 hat sich ein wohldefiniertes
Syndrom herauskristallisiert. Zum gegenwärtigen, gängigen klinischen Bild
gehören deutliche mentale Retardierung, Mikrozephalus, kraniofaziale Dysmorphien
und körperliche Missbildungen In unserer Studie beschreiben wir einen neuen Fall
von Ringchromosom 13 bei einem 18-jährigen Mann. Da die Literatur von Berichten
über die körperlichen Merkmale der Fälle dominiert wird, möchten wir uns auf die
mentale Retardierung konzentrieren und erörtern die Literatur unter diesem
Gesichtspunkt.
FALLBERICHT
Der Patient wird
in der 40. Schwangerschaftswoche nach einer unauffälligen Schwangerschaft
geboren; die Mutter ist 21, der zur Mutter nicht blutsverwandte Vater 28 Jahre
alt. Beide Eltern sind gesund. Bei der Entbindung traten Komplikationen auf, da
sich die Nabelschnur um den Hals des Probanden gewickelt hatte, was zu einer
leichten Asphyxie führte. Geburtsgewicht lag bei 2640 g, Länge 47 cm und
Kopfumfang 30 cm. Der Patient hat drei jüngere Geschwister, die körperlich und
geistig normal sind.
Die Anamnese zeigt geistige und körperliche Entwicklungsverzögerungen auf.
Die Meilensteine der motorischen Entwicklung waren verzögert. Er lernte
mit 12 Monaten laufen und mit 30 Monaten sprechen. Im Alter von 10 Jahren
wurde er in der 4. Klasse der Grundschule innerhalb der Schule aus der
Durchschnittsklasse in eine Sonderklasse für Kinder mit leichter mentaler
Retardierung versetzt. Nach Abschluss der Mittelstufe kam er in eine Sonderschule,
die er mit 18 Jahren abschloss. Zu dem Zeitpunkt wurde er zu einer psychologischen
Untersuchung überwiesen, in deren Rahmen er beim Tanaka-Binet-IQ-Test einen
Wert von 50 erreichte, was ihn als leicht mental retardiert einstuft. Danach
trat er eine Stelle in einer Bäckerei an.
Bei der Untersuchung im Alter von 18 Jahren präsentierte
sich der Patient mit Mikrozephalus und fazialen Dysmorphien, u.a. großen,
niedrig angesetzten Ohren, breiter Nasenwurzel, Epikanthus, Mikrognathie und
einem kurzen Philtrum (Abb. 1)*. Er war 165 cm groß, wog 43 kg und hatte einen
Kopfumfang von 52 cm. Die neurologische Untersuchung blieb
unauffällig.
Bei einer Chromosomenanalyse von 30 peripheren
Blutlymphozyten mit der Methode der G-Bänderung trat bei allen 30 Zellen ein
Ringchromosom 13 auf. Die Bruchpunkte wurden durch eine G-Bänderung mit hoher
Auflösung identifiziert (Abb. 2)*. Der Karyotyp kann wie folgt beschrieben
werden: 46, XY, r(13) (p11q34).
Der Patient
zeigte sich als sehr geselliger und fröhlicher junger Mann. Seine verbale
Intelligenz war hoch und er hatte gute Sprachfähigkeiten. Er konnte seine Hobbys
und Interessen flüssig beschreiben. Er ist in allen Dingen des täglichen Lebens
unabhängig und benutzt öffentliche Verkehrsmittel. Er übernimmt sowohl im
Privat- wie auch im Berufsleben viele Verantwortlichkeiten. Zu Hause kümmert er
sich um den Hund und geht einkaufen. In der Bäckerei ist er für das Abholen und
Verteilen von Brot an bestimmte Stellen zuständig.
* Abb. 1 und
2 sind auf Anfrage als Nachdruck erhältlich.
Diskussion
Mehrere Forscher
geben an, dass das Ringchromosom-13-Syndrom als klinische Einheit oder Einheiten
existiert (Niebuhr & Ottosen 1973; Martin et al. 1982; Parzchela et al.
1985). Nieburh & Ottosen (1973) schlugen drei mögliche klar erkennbare
klinische Syndrome des Ringchromosoms 13 vor, abhängig von einem unterschiedlich
großen Verlust genetischen Materials auf dem langen Arm des Chromosoms 13 bei
der Ringbildung: Gruppe I, mit dem Verlust der Segmente 13q34 und evtl. 13q33,
zeigt schwere mentale Retardierung, Mikrozephalus mit echtem Hypertelorismus,
ausgeprägte Stirnvorwölbung mit Überlagerung der Nasenwurzel, nach vorne
geneigte Schneidezähne, und große Ohren mit tiefen Helixfurchen; Gruppe II, mit
dem Verlust von Segment 13q32 und Teilen von 13q31, zeigt die klinischen
Merkmale von Gruppe I, dazu Aplasie oder Hypoplasie der Daumen, Fuß- oder
Zehenanomalien, schwere Fehlbildungen der Genitalien, Analatresie, sowie
Fehlbildungen der Augen; Gruppe III mit einem Bruchpunkt bei 13q21 weist
Retinoblastome auf. Gemäß dieser Klassifizierung würde unser Fall zur Gruppe I
gehören. Zwar konnten einige klinische Merkmale dieser Gruppe beobachtet werden,
wie z.B. Mikrozephalus und große Ohren, jedoch war das Ausmaß der fazialen
Dysmorphien und mentalen Retardierung erheblich geringer. Einige Autoren halten
die Existenz eines derart eindeutigen, von den Bruchpunkten abhängigen Musters
für eher unwahrscheinlich (Steinbach et al. 1981; Hoo et al. 1984; Brandt et al.
1992).
Nach Auswertung der bisher veröffentlichten 21 Fälle mit
identifizierten Bruchpunkten scheint der Schwerpunkt auf dem körperlichen
Erscheinungsbild sowie dem Vorhanden- oder Nicht-Vorhanden-Sein eines von
Bruchpunkten abhängigen klinischen Syndroms zu liegen. Eine schwere mentale
Retardierung wird zwar als charakteristisches Merkmal des
Ringchromosom-13-Syndroms angegeben (Rethoré & Pinet 1987), jedoch konnten
nur wenige quantitative oder qualitative Beschreibungen der mentalen Entwicklung
gefunden werden. Deshalb möchten wir uns in dieser Studie auf diesen Aspekt von
Ringchromosom 13 konzentrieren. Bei den oben erwähnten 21 Fällen waren 2
Totgeburten enthalten (Stetten et al. 1990; Brandt et al. 1992), eine davon mit
Anenzephalitis (Brandt et al. 1992),10 Fälle wurden als schwer mental retardiert
beschrieben (Mikkelsen & Niebuhr 1969; Fryns et al. 1974; Magenis et al.
1976; Cossu et al. 1979; Lagergren et al. 1980; Jones et al. 1981; Steinbach et
al. 1981; Martin et al. 1982), 6 Fälle wurden ohne weitere Angaben als mental
retardiert beschrieben (Niebuhr & Ottosen 1973; Hoo et al. 1974; Noel et al.
1976; Steinbach et al. 1981; Martin et al. 1982; Parcheta et al. 1985) und 3
Fälle wurden als leicht bis mäßig retardiert beschrieben (Verma et al. 1978;
Hernandez et al. 1979; McCorquodale et al. 1989). Eine Korrelation zwischen dem
Grad der mentalen Retardierung und dem Bruchpunkt konnte nicht festgestellt
werden. Jedoch liegt bei allen leichten und mäßigen Fällen, einschließlich dem
hier besprochenen, der Bruchpunkt bei q34.
Unseren Patienten
stufen wir als leicht mental retardiert ein. Hernandez et al. (1979) beschrieben
ein 9-jähriges Mädchen mit einer leichten psychomotorischen Retardierung und
einem IQ von 60. Beim von McCorquole et al. (1989) beschriebenen Fall handelt es
sich um einen 5-jährigen Jungen mit mäßiger mentaler Retardierung. Schließlich
der Fall des Mädchens, präsentiert vom Verma et al. (1978), das 2 Jahren und 8
Monate alt war und anscheinend als leicht mental retardiert eingestuft
wurde.
Es ist offensichtlich, dass die meisten veröffentlichten
Fälle in die Kategorie der schweren mentalen Retardierung fallen. Entgegen der
Studie von Brandt et al. (1992), in der überwiegend die gleichen Fälle
ausgewertet wurden, handelt es sich aber keineswegs um 100 % aller Fälle.
Entgegen dem klassischen Profil des Ringchromosom-13-Syndroms (Rethoré &
Pinet 1987) möchten wir die Fälle leichter und mäßiger mentaler Retardierung
hervorheben, die es durchaus auch unter den Patienten mit Ringchromosom 13
gibt.
Bisher wurde der geistigen und psychomotorischen
Entwicklung von Patienten mit Ringchromosom 13 nur wenig Aufmerksamkeit
geschenkt. Es werden dringend detaillierte und präzise Beschreibungen der
geistigen Entwicklung benötigt, um Erkenntnisse über ihre langfristigen mentalen
Prognose zu gewinnen.
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