Ringchromosom-15-Syndrom bei einer erwachsenen Frau

Takeshi MATSUISHI1), Yoshiteru YAMADA2), Keiko ENDO2), Harutada SAKAI3) & Yosikazu FUKUSHIMA4)

1) Abteilung für Heilpädagogik, Yokohama National University, Yokohama City,
2) Abteilung für Neuropsychiatrie, Medizinisches Institut, Yokohama City University, Yokohama City
3) Abteilung für Neuropsychiatrie, Kanagawa Rehabilitation Centre, Atsugi City, und
4) Abteilung für Genetik, Kanagawa Children’s Hospital, Yokohama City, Japan

Zusammenfassung
In dieser Veröffentlichung präsentieren die Autoren den Fall einer 24-jährigen Frau mit Ringchromosom 15. Bei der Untersuchung stellte sich die Patientin mit schwerer mentaler Retardierung, Kleinwuchs und Mikrozephalus vor, dazu kamen weitere leichte dysmorphe Kennzeichen. Wir verglichen diesen Fall mit drei anderen Fällen erwachsener Frauen mit chromosomalen Aberrationen. Dabei beobachteten die Autoren ein etwas unausgeglichenes  Profil im Hinblick auf den Schweregrad der mentalen Retardierung und das Verhalten der vier Frauen; Geschlechtsentwicklung und Keimdrüsenfunktion schien in allen vier Fällen normal zu sein.

Schlüsselwörter: chromosomale Anomalien, Kleinwuchs, mentale Retardierung, Mikrozephalus, Geschlechtsentwicklung

Einleitung
Es gibt viele Fälle mentaler Retardierung aufgrund von chromosomalen Anomalien. Hier berichten wir von einer 24-jährigen Frau mit Ringchromosom-15-Syndrom. Dieses seltene Syndrom, das zuerst von Jacobsen (1966) beschrieben wurde, geht mit einem breiten Spektrum assoziierter Anomalien einher. In der vorliegenden Studie werden die klinischen Befunde umfassend beschrieben. Weiterhin wird der Fall mit den Fällen von drei anderen erwachsenen Frauen (Fryns et al.1986; Fujimaki et al. 1987; Horigome et al. 1992) verglichen und erörtert.

Fallbericht
Die Frau wurde in der 40. Schwangerschaftswoche geboren; Mutter 35, Vater 36 Jahre alt. In der Familie gab es weder Blutsverwandtschaften oder angeborene Fehlbildungen noch mentale Retardierung. Die Patientin hat einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester, beide sind körperlich und geistig gesund. Ihre Anamnese wird nicht durch Krankheiten gekennzeichnet.
 Die Entbindung wurde durch die Beckenendlage des Kindes kompliziert, das asphyktisch geboren wurde. Das Geburtsgewicht betrug 2100 g, das Mädchen war 43 cm groß. Bei der ärztlichen Untersuchung nach der Geburt wurden ein Mikrozephalus, Dreiecksgesicht, Strabismus divergens, abnormale Ohren und über den Körper verteilte Café-au-lait-Flecken diagnostiziert.
 Die motorische und geistige Entwicklung des Neugeborenen war schwer retardiert. Im Alter von zweieinhalb Jahren fing sie an zu laufen und zu sprechen. Trotzdem verlief die sekundäre Geschlechtsentwicklung normal und sie menstruierte mit 17 Jahren zum ersten Mal. Zu der Zeit wurde festgestellt, dass sie relativ fettleibig war.
 Im Alter von 24 Jahren wog die Frau 32,5 kg, war 124 cm groß und der Kopfumfang betrug 44,3 cm. Ihre Gesichtsform war dreieckig (Abb. 1) und ihr Gaumen mäßig hoch. Bei der Untersuchung ihrer Augen wurde festgestellt, dass die Papillen invertiert waren und die Patientin unter angeborenen Katarakten litt. Ihre Hände waren zwar klein, zeigten aber keine Anomalien, und die Handfunktion war normal.
 Das Ergebnis der neurologischen Beurteilung der Patientin war, abgesehen von einer Dysarthrie, normal. Ein EEG ergab okzipital dominante Thetawellen moderater Weite, mit einer Häufigkeit von sechs bis sieben Zyklen pro Sekunde. Außerdem wurden bilateral am medialen und anterioren Schläfenlappen kleine Spitzen aufgezeichnet. Ein Schädel-CT zeigte außer dem Mikrozephalus keine weiteren Anomalien.
 Mithilfe eines Giemsa-Trypsin-Bandings wurden Chromosomen aus peripheren Blutlymphozyten der Patientin und ihrer Familie gebändert. Eine Chromosomenanalyse der 30 Zellen ergab die Anwesenheit von Ringchromosom 15. Die Bruchpunkte bei der Ringbildung waren in 15p11.2 und 15q26.3. Daraus ergab sich folgender Karyotyp: 46, XX, r(15) (p11.2q26.3) (Abb. 2). Die Karyotypen von Eltern und Geschwistern waren normal.
 Bei der psychologischen Untersuchung zeigte sich die Frau fröhlich und freundlich und es wurden keine offensichtlichen Verhaltensschwierigkeiten beobachtet. Sie konnte einige Worte sprechen. Laut dem Tanaka-Binet-Test hatte sie einen IQ von 13.

Diskussion
Das Ringchromosom-15-Syndrom ist eine seltene chromosomale Aberration mit einem breiten Spektrum an assoziierten Anomalien. Zu den wichtigsten klinischen Manifestationen des Syndroms gehören Wachstumsverzögerung, Hypertelorismus und Dreiecksgesicht (Butler et al. 1988).  Wir verglichen den uns vorliegenden Fall mit drei weiteren Frauen mit diesem Syndrom (Fryns et al. 1986; Fujimaki et al. 1987; Horigome et al. 1992).
 Bei allen Frauen schien die Geschlechtsentwicklung und Keimdrüsenfunktion normal zu sein. In zwei Fällen (Fujimaki et al. 1987, Horigome et al.1992) gebaren die Frauen sogar Kinder. Das bestätigt die Ergebnisse von Borghgraef et al. (1988), der eine normale Entwicklung in der Pubertät und Menstruation bei Teenagern berichtete. Diese Tatsache steht jedoch in völligem Gegensatz zu den meisten Fällen mit diesem Syndrom, die unfruchtbar sind (Meinecke et al. 1980; Moreau & Teyssier 1982).
 Im Allgemeinen zeigen Patienten mit Ringchromosom 15 eine leichte bis mäßige mentale Retardierung (Jacobsen 1966; Emberger et al. 1971; Forabosco et al.; Rumenic et al. 1976; Fujita & Matsumoto 1978; Scheibenreiter & Frisch 1978; Schmid et al. 1978; Fryns et al. 1979; Wisniewski et al. 1979; Gardner et al. 1980; Kouseff 1980; Ledbetter et al. 1980; Meinecke et al. 1980; Moreau et al. 1982; Fujimaki et al. 1987; Borghgraef et al. 1988; Horigome et al. 1992), ein Bericht erwähnt normale Intelligenz (Kitatani et al. 1990). In den von Stoll et al. (1975) und Fryns et al. (1986) beschriebenen Fällen sowie dem vorliegenden war die mentale Retardierung jedoch schwerwiegend. Die von unserer Patientin erlittene Asphyxie bei der Geburt könnte ebenfalls zur Schwere der mentalen Retardierung beigetragen haben.
 Beim Verhalten der Patienten mit Ringchromosom-15-Syndrom scheint es große Unterschiede zu geben. Im vorliegenden Fall ist die Frau freundlich und fröhlich, Fryns et al. (1986) beschreiben einen aggressiven Fall mit Stimmungsschwankungen. Drei Mädchen mit Ringchromosom-15-Syndrom verhielten sich herzlich, bereitwillig und freundlich (Borghgraef et al.1988), während Jacobsen (1966) und Stoll et al. (1975) bei ihren Patienten charakteristische Verhaltensänderungen zum Aggressiven beobachteten.
 Die neurologischen Untersuchungen der Frau waren, mit Ausnahme einer Dysarthrie, unauffällig. Im Gegensatz dazu berichten Fryns et al. (1986) von einer schweren spastischen Paraplegie der unteren Extremitäten. Fryns et al. (1986) gehen davon aus, dass die Größe des neurologischen Defizits vom Grad des Mikrozephalus abhängt; dieser Schluss wird hier jedoch nicht erhärtet, da der Mikrozephalus der beiden Frauen nicht sehr unterschiedlich scheint. Fryns et al. (1986) misst einen Kopfumfang von 44 cm, bei unserer Patientin betrug der Kopfumfang 44,3 cm.
 Grundsätzlich gibt es bei Patienten mit Ringchromosom-15-Syndrom viele Gemeinsamkeiten. Bei genauerer Betrachtung scheint es jedoch mehr Unterschiede in den mentalen, neurologischen und verhaltensbiologischen Befunden zu geben. Eine sorgfältige Zusammenstellung der klinischen, psychologischen und zytogenetischen Daten wird dringend benötigt, um die Erkenntnisse über die natürliche Entstehung und langfristigen körperlichen und geistigen Prognosen auszubauen.

Literaturverzeichnis

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