Historische Vorläufer der Heilpädagogik
Gabor TOTH, Takeshi
MATSUISHI
Kurz
nach Beginn des christlichen Zeitalters erfuhren behinderte Kinder in der
westlichen Zivilisation eine gewisse Zuwendung in Form von Fürsorge und Schutz,
doch die Heilpägogik im eigentlichen Sinne begann erst im 16. Jahrhundert. Pedro
Ponce de León
gelang es damals, gehölosen Schülern in Spanien das Sprechen, Lesen und
Schreiben beizubringen. Es wird davon ausgegangen, dass Juan Pablo Bonet, der
1620 das erste Buch zu diesem Thema herausgab, dessen Methoden folgte. Daraus
ergab sich ein gesteigertes Interesse an der Ausbildung Gehöloser in ganz
Europa. Im 17. Jahrhundert schrieb John Bulwer in England eine Abhandlung zum
Thema Sprachunterricht und Lippenlesen für Gehölose.
In Frankreich
arbeitete Charles-Michel, Abbé de l' Epée, (1712-89) im selben Bereich weiter
und lieferte einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der natürlichen
Zeichensprache der Taubstummen zu einer systematischen, konventionellen Sprache,
die zum Unterrichten von Gehölosen genutzt werden konnte. Seine Arbeit wurde von
Abbé Sicard weitergeführt und brachte die Gebärdensprache oder stumme
Lehrmethode für Gehörlose hervor.
In Deutschland unterrichtete Samuel
Heinicke taubstumme Kinder durch Lautsprache. Später, im 19. Jahrhundert,
entwickelte Friedrich Moritz Hill (1805-74) - vielleicht einer der größten
Gehölosenpägogen - seinen "naturgemäß geordneten Unterrichtsgang", der auf dem
Prinzip des "Hier und Jetzt" beruhte. Daraus ergab sich die sprachliche
Gehölosenbildung, die eine fortgesetzte Wirkung auf den Unterricht von
Taubstummen hatte und schlie゚lich in der ganzen Welt zur anerkannten Praxis
wurde. Das erste ungarische Institut für Gehölose (Hörgeschädigte) öffnete 1802
in Vác seine Tore.
Ernsthafte Versuche, Blinde zu unterrichten oder
auszubilden, wurden erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts unternommen. Valentin
Hauy, ein Franzose, erwarb sich postum den Titel "Vater und Apostel der
Blinden", nachdem er 1784 in Paris das Nationalinstitut für junge Blinde
(Institution Nationale des Jeunes Aveugles) mit 12 blinden Kindern als ersten
Schülern gründete. Die Nachricht, dass es Hauy gelungen war, diesen Kindern das
Lesen beizubringen, verbreitete sich rasch in andere Länder. Daraufhin wurden
Blindenschulen in Liverpool (1791), London (1799), Wien (1805), Berlin (1806),
Amsterdam und Stockholm (1808), Zürich (1809), Ungarn (1827), Boston und New
York (1832) gegründet. Wissenschaftliche Versuche, mental retardierte Kinder zu
unterrichten, begannen mit den Bemühungen von Jean-Marc-Gaspard Itard, einem
franzöischen Facharzt für Ohrenleiden, der Verbindungen zu einer
Gehörlosenanstalt hatte. In seinem Klassiker "Das wilde Kind von Aveyron" (1801)
berichtete er über seine Versuche über fünf Jahre, einen 11-jährigen Jungen -
Victor- zu erziehen, der nackt und unbeaufsichtigt in den Wäldern von Aveyron
aufgegriffen worden war. 1848 entwickelte Edouard Séguin auf der Basis von
Itards Werk eine Unterrichtsmethode, in der Körper und Sinne angesprochen
werden, um geistige Vorgänge anzuregen. Dies war die erste sensomotorische
Therapie in der Geschichte der Heilpägogik. Séguins veröfentlichte Werke hatten
zum Beispiel Einfluss auf Maria Montessori, eine italienische Kinderrztin, die
zur Pädagogin und Neuerin wurde, indem sie eine einzigartige Methode zur
Ausbildung mental retardierter und kulturell benachteiligter Kinder im Rom der
1890er und frühen 1900er Jahre entwickelte. Eine selbsttätige Erziehung durch
speziell entwickelte "didaktische Materialien" für die sensomotorische
Ausbildung war der Eckpfeiler des Systems. In fortschrittlichen Ländern wird die
Heilpädagogik für Behinderte seit der zweiten Hälfte der 20. Jahrhunderts
überall angewandt und es gibt zwei Konzepte zu individuellen Unterschieden: 1.)
das Konzept der "interindividuellen Unterschiede", bei dem ein Kind mit einem
anderen verglichen wird, 2.) das Konzept der "intraindividuellen Unterschiede",
bei dem die Fähigkeiten eines Kindes in einem Bereich mit denen in anderen
Bereichen verglichen werden. Die Gruppierung von Kindern in Sonderklassen
basiert auf dem Konzept der interindividuellen Unterschiede, während die
Lernverfahren für jedes Kind durch intraindividuelle Unterschiede bestimmt
werden, also durch seine Fähigkeiten und Behinderungen.
Historischer
Rückblick auf die Beziehung zwischen Medizin und Pädagogik im Bereich der
Heilpädagogik Es hat im Bereich der Heilpädagogik schon immer eine sehr enge
Beziehung - in Theorie und Praxis- zwischen der Medizin und der Pädagogik
bestanden. In der Geschichte der Heilpädagogik wurde von jeher die Frage
gestellt, wer sich um die "Gestörten", also Menschen mit Behinderungen, kümmern
sollte. Es wurden verschiedene Anstalten und Schulen gegründet, manche mit
Lehrern, die für diese Aufgabe spezialisiert waren, manche mit Lehrkräten ohne
Qualifikationen, doch sie lernten aus der Praxis. Etliche Anstalten wurden von
Ärzten geführt, aus denen dadurch auch "Heilpädagogen" wurden.
Krankenschwestern, die sich zuerst "nur" um die Betreuung der Patienten
kümmerten, übernahmen zur körperlichen auch die pädagogische "Pflege". Seit dem
18. Jahrhundert können wir feststellen, dass Fachleute die Sonderschulausbildung
als "Heilpädagogik" und als "medizinische oder heilende Pädagogik" beschreiben.
Daraus ist zu ersehen, dass die medizinische Betreuung und die schulische
Erziehung von Behinderten von Beginn an Hand in Hand gingen. Aus Ärzten wurden
Lehrer, Lehrer studierten, um Ärzte zu werden, Krankenschwestern interessierten
sich für Therapie und Pädagogik und so weiter. Dadurch entstand die
professionelle Teamarbeit mit einem fächerübergreifenden Ansatz, um den
Patienten die bestmliche Hilfe angedeihen zu lassen. So gründete beispielsweise
ein Arzt in Ungarn mit Namen Bálint Köszeghy zwischen 1830 und 1840 eine
Privatschule für Hör- und Sprachgeschädigte. Er wollte eine bessere Anstalt
schaffen und plante daher ihren Aufbau sehr genau. Sein Ziel war es, die
medizinische Betreuung von Behinderungen mit professionellen Lehrmethoden zu
verbinden. Köszeghy Ansicht nach sollten "wir die Schulbildung der Kinder
spätestens im Alter von 5 Jahren beginnen, um die besten Fortschritte bei ihrer
Entwicklung zu erzielen". Er war einer der ersten Fachleute für Behinderte, der
die Bedeutung der Frühentwicklung erkannte. Er wollte mit Ärzten
zusammenarbeiten, die auch als Lehrer ausgebildet waren, oder mit Heilpädagogen,
die Ärzte geworden waren oder zumindest bestimmte Therapien anwenden konnten und
den medizinischen Ansatz verstanden und daher Seite an Seite mit Ärzten arbeiten
konnten. Leider konnte Köszeghys Plan nie verwirklicht werden, aber seine
Gedanken spielen auch heute noch eine wichtige Rolle in der Heilpädagogik. In
Deutschland herrschte zur selben Zeit ein ähnliches Denken. So schrieben z. B.
Deinhardt und Georgens (1861) ein zweibändiges Buch zur "Heilpädagogik unter
Berücksichtigung der Idiotie". In ihrem Buch nannten sie als Aufgabe des
Heilpädagogen die "Heilerziehung". Dieses historische Erbe im Bereich der
Heilpädagogik überzeugt mich davon, dass wir auch im 21. Jahrhundert die enge
Zusammenarbeit zwischen Medizin und Pädagogik als "Heilerziehung" oder
"medizinische Pädagogik" fortsetzen müssen.
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