„Teilleistungsstörungen“ in den USA und „Allgemeine Lernschwierigkeiten“
in Australien
Miki AKIEDA, Takeshi MATSUISHI
Yokohama National University,
Faculty of Education and Human Sciences,
Department of Disability Studies
1.Einleitung
In dieser Studie wird das Konzept der Teilleistungsstörung (Specific Learning Disability, SLD) neu beurteilt. Dabei werden die Schwächen dieses diagnostischen Kriteriums, das vor allem in den USA verwendet wird, im Vergleich zu dem in Australien gültigen Konzept der allgemeinen Lernschwierigkeiten (General Learning Difficulty) aufgezeigt, das sowohl Kinder mit Lernbehinderung als auch Kinder mit leichter mentaler Retardierung unterstützt. In dieser Studie werden wir nachweisen, dass das australische Modell im Vergleich zu dem in den USA verwendeten Ansatz mehr Vorteile bietet und ein besseres Vorbild für die zukünftige Verbesserung des japanischen Bildungs- und Sozialhilfesystems darstellt.
2.Definitionen und Aspekte von „leichter mentaler Retardierung“ und „Lernbehinderung“ in den USA
Laut dem DSM-Ⅳ-TR
wird eine „Lernstörung diagnostiziert, wenn die Leistung eines Individuums in
einem individuell absolvierten, standardisierten Test in den Bereichen Lesen,
Mathematik und Schreiben deutlich unter dem für das Alter, die Ausbildung und
den Intelligenzgrad des Individuums üblichen Wert liegt, ... wobei ‚deutlich
unter’ in der Regel eine Diskrepanz von mehr als zwei Standardabweichungen
zwischen der erbrachten Leistung und dem IQ bedeutet1)“. In dieser Definition der
Teilleistungsstörung ist Lernbehinderung nicht mit mentaler Retardierung in
Bezug gesetzt. Im derzeitigen US-Bildungssystem werden die meisten Schüler mit
leichter mentaler Retardierung jedoch als Fälle mit Teilleistungsstörung
eingestuft2). Statistische Informationen des
US-Bildungsministeriums belegen, dass die Zahl der Kinder im schulpflichtigen
Alter mit mentaler Retardierung zwischen 1976/77 und 1994/95 um 40 %
gesunken ist. Die Zahl der Schüler mit Lernbehinderung hingegen ist im selben
Zeitraum stark angestiegen (einigen Schätzungen zufolge um bis zu 207 %3)). Es
ist sehr unwahrscheinlich, dass die Zahl der Personen mit mentaler Retardierung
so starken Schwankungen unterliegt, wie diese Daten nahelegen. Und genauso
unwahrscheinlich ist es, dass Teilleistungsstörungen sorgfältig und korrekt
diagnostiziert wurden. Daher kann wohl davon ausgegangen werden, dass die
korrekte Definition der Leistungsstörung in den USA praktisch nicht mehr
angewendet wird. In der Tat wird von einem Autor die Tatsache anerkannt, dass
zu viele Schüler mit Teilleistungsstörungen diagnostiziert werden, darunter
auch Individuen, die eine leichte mentale Retardierung oder andere Gründe für
Leistungsschwächen aufweisen4).
3.Das Konzept der Lernschwierigkeit in australischen Bildungssystemen
Einer Untersuchung der australischen Bildungssysteme (vor allem in Queensland) anhand des Diskrepanzmodells des DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders)5), zufolge, weisen nur 3–5 % der Personen, die mit einer Teilleistungsstörung diagnostiziert wurden, tatsächlich eine solche Störung auf6). Daher wurde in Australien ein neues Kriterium eingeführt, das alle Lernstörungen umfasst (darunter Teilleistungsstörungen) und als allgemeine Lernschwierigkeit eingestuft wurde. Twomey hat weitere Arten von Lernschwierigkeiten auf der Grundlage von drei Modellen identifiziert: a) das Defizitmodell, das geistige Behinderung, Seh- und Hörstörungen, dysfunktionale Familiensituationen sowie Gesundheitsprobleme umfasst, b) das Modell des „ineffizienten Lerners“ und c) das Modell der Umweltfaktoren (dabei ist vor allem die Qualität und Eignung des Unterrichts ausschlaggebend7)). Etwa 16–20 % aller Schüler weisen eine Form allgemeiner Lernschwierigkeiten auf8).
4.Schlussfolgerung
Um das japanische Heilpädagogikprogramm zukünftig zu verbessern, ist eine Abwendung vom US-amerikanischen Modell (basierend auf dem Kriterium der Teilleistungsstörung) hin zum australischen Modell (basierend auf dem Kriterium der Lernschwierigkeit) notwendig.
Die Diagnostizierung von Teilleistungsstörungen bei übermäßig vielen Individuen in den USA ist möglicherweise auf die Stigmatisierung des Begriffs „mentale Retardierung“ zurückzuführen. Allerdings hat dies dazu geführt, dass der Begriff „Teilleistungsstörung“ nicht mehr klar definiert ist. Seit der Einführung des „Individuals with Disabilities Education Act“ (IDEA) im Jahr 2004 wurde „Response to Intervention“ (RTI) als Alternative zu dem Diskrepanzmodell verwendet, um lernbehinderten Schülern eine Sonderausbildung zukommen zu lassen. Der diagnostische Begriff „Teilleistungsstörung“ wurde jedoch nie abgeändert9)10). Fälle von leichter mentaler Retardierung wurden oft fälschlicherweise als Teilleistungsstörung diagnostiziert, wodurch diese zu einer sehr vagen und allgemeinen Störung geworden ist. Wenn ein Schüler mit leichter mentaler Retardierung fälschlicherweise als teilleistungsgestört eingestuft wird, muss er ein speziell auf Kinder mit Teilleistungsstörungen (die meisten davon weisen eine Lesestörung auf) abgestimmtes Programm durchlaufen und hat nicht die Möglichkeit, eine speziell auf Kinder mit mentaler Retardierung abgestimmte Ausbildung in Anspruch zu nehmen (eine Ausbildung, die auf die Verbesserung der geistigen Fähigkeiten und der Defizite im adaptiven Verhalten abzielt11)). Dadurch werden die Zukunftschancen dieser Individuen in Bezug auf eine Beschäftigung und Sozialhilfe im Erwachsenenalter zusätzlich getrübt.
Daher wurde in Australien das neue Konzept der „Allgemeinen Lernschwierigkeiten“ eingeführt, um die Effizienz des Heilpädagogikprogramms zu verbessern. Der Begriff „Teilleistungsstörung“ existiert in Australien zwar weiterhin, aber diese Störung muss nun sorgfältiger und den Angaben des DSM entsprechend diagnostiziert werden. Als pädagogischer Begriff soll „allgemeine Lernschwierigkeit“ anstelle von „Teilleistungsstörung“ verwendet werden. Kinder mit leichter mentaler Retardierung werden in ein geeignetes, speziell auf ihre Bedürfnisse abgestimmtes Bildungsprogramm integriert. Neben leichter mentaler Retardierung werden Störungen mit Lernschwierigkeiten aus anderen Gründen unter dem Kriterium „Lernschwierigkeit“ erfasst. Dadurch wird das Spektrum an Sonderausbildungen erweitert. Abschließend möchten wir darauf hinweisen, dass das japanische Heilpädagogiksystem noch viel von diesem innovativen Modell lernen kann, damit in Japan nicht genauso wie in den USA eine sogenannte „vergessene Generation“11) entsteht.
Literaturnachweis
1) American
Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders,
Fourth Edition, Text Revision, American Psychiatric Association, 2000.
2) AAMR: Mental Retardation-Definition, Classification, and Systems of
Supports-10th Edition, American Association on Mental Retardation,
2002.
3) MacMillan, D , L. , Gresham, F. M et al . The Labyrinth of IDEA: School
decisions on referred students with subaverage general intelligence. American
Journal on Mental Retardation, 101, 161-174, 1996.
4) Kavale,K.A., Holdnack,K.A., & Mostert, M.: Responsiveness to
intervention and the identification of specific learning disability: A critique
and proposal. Learning Disability Quarterly, 28, 2-16, 2005.
5) National Health and Medical Research Council: Learning difficulties in
children and adolescents. Canberra: Australian Government Publishing Service,
1990.6) Graham,L., & Bailey,J.: Learning disabilities and difficulties: An
Australian conspectus. Journal of Learning Disabilities, 40, 5, 410-419, 2007.
7) Twomey, E.: Linking learing theories and learning difficulties. Australian
Journal of Learning Disabilities,11, 2, 93-98, 2006.
8)Louden, W., Chan,L., et al.: Mapping the territory: Primary students with
learning difficulties in literacy and numeracy. Canberra: Department of
Education, Training and Youth Affairs. 2000.
9) Mandlawitz. M.: What Every Teacher Should Know About IDEA 2004 Laws and
Regulations, Pearson Education, Inc, 2007.
10) Flecher M.,J Lyon,G.,R., et al.: Learning Disabilities-from identification
to intervention-,THE GUILFORD PRESS, 2007.
11) Lerner J., Frank K.: Learning Disabilities and Related
Disorders-Characteristics and Teaching Strategies, HOUGHTON MIFFLIN, 2006.
12)Tymchuk, J.,A. Lakin, C.,K., Luckasson: The Forgotten Generation-The Status
and Challenges of Adults with Mild Cognitive Limitations. Paul H. Brookes
Publishing Co, 2001.
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