Über die pädagogische Theorie
von Maria Montessori
Mari TUBAKI, Takeshi MATSUISHI
1. Die pädagogischen Grundsätze
von Montessori
Wenn Erwachsene die Aktivitäten von Kindern in einer gut
vorbereiteten Umgebung sorgsam überwachen, entdecken die Kinder selbst in
angemessener Zeit, was sie für ihre Entwicklung benötigen und nehmen alles
Erforderliche in ihren Geist und Körper auf. Kritische Elemente für das Wachstum
von Kindern sind ihre Umgebung, Lernmaterial sowie Erwachsene, die auf sie
aufpassen. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht darauf, dass Erwachsene Kinder
einseitig unterrichten und ihnen Fähigkeiten vermitteln, sondern darauf, ihnen
eine Umgebung zu bieten, in der Kinder selbst lernen können. Dabei muss
sichergestellt werden, dass Kindern Gegenstände geboten werden, auf die sie sich
konzentrieren können, sowie die entsprechende Zeit und Räumlichkeiten, in denen
sie das selbständig tun können. Wann ihnen was angeboten werden sollte, hängt
von den Erwachsenen ab. Dazu müssen die Erwachsenen Kinder geduldig beobachten.
Wenn die Umgebung dem einzelnen Kind entsprechend vorbereitet ist, kann jedes
Kind seine Fähigkeiten selbst entwickeln. Oft wird die Entwicklung der Kinder
durch das Eingreifen der Erwachsenen, meist in guter Absicht, behindert.
Naturgemäß sind Kinder ordnungsliebend. Erwachsene sollten nicht versuchen, das
Wachstum eines Kindes zu stören. Sie sollten ihnen nur zur Hand gehen, wenn sie
in Schwierigkeiten sind. Damit sich Kinder unterschiedlicher Persönlichkeit
Wissen und Intelligenz aneignen und dabei Selbstsicherheit entwickeln können,
gibt es einige allgemeine Anweisungen mit wissenschaftlicher Unterstützung. In
welcher Zeit und auf welche Weise sie sich dieses Wissen aneignen, hängt jedoch
vom einzelnen Kind ab. Deshalb sollen die Kinder nicht miteinander verglichen
werden, da es unerheblich ist, wer schneller oder mehr lernt. Es geht dabei
nicht um Wettbewerb.
2. Montessori und ihr pädagogisches Denken
Im Alter von 40 Jahren widmete Montessori ihr Leben der Verbreitung von Lehrmaterial, das ihr pädagogisches Denken widerspiegelte. Sie gründete die Association Montessori Internationale (AMI) und ließ ihr Lehrmaterial patentieren. Die Klassenzimmer wurden entsprechend der Montessori-Pädagogik eingerichtet. Dort unterrichteten Lehrkräfte, die in zertifizierten AMI-Schulen ausgebildet wurden und ein Diplom erlangt hatten, mit Hilfe von zertifiziertem Material in einer Einrichtung, die dem Installationsstandard entspricht. Die Verwaltung der Vereinigung wurde ihrem Sohn und später ihrer Enkelin übertragen.
Das Lehrmaterial von Montessori verkörpert das Denken einer Frau, die als einzige Tochter aus wohlhabendem Hause in einer ungetrübten Umgebung aufwuchs und Ingenieurwissenschaften, Medizin und Anthropologie studierte. Die Verwaltung der Vereinigung spiegelt die Beharrlichkeit eine Frau wider, die in der von Männern dominierten Gesellschaft von vor 100 Jahren eine wichtige Rolle spielte und Pionierarbeit leistete. Als ledige Mutter gab sie ihren Sohn bis zum Alter von 15 Jahren in die Obhut anderer Menschen und reiste von Land zu Land, um den Gräueltaten der beiden Weltkriege zu entfliehen. Montessori verdankt ihre Errungenschaften unter anderem ihrer Mutter, die sie im Hintergrund stets unterstützte, sowie ihren Freundinnen, die sie in den letzten Jahren begleiteten.
3. Die Montessori-Pädagogik in der
Praxis
3-1 Erlernen von alltäglichen Aktivitäten
Für Montessori bestand der erste Schritt des Erziehungsprozesses darin, den Kindern die Möglichkeit zu bieten, Spaß daran zu finden, etwas selbst zu machen, um ihre Selbstsicherheit im Alltag zu stärken. Zu diesem Zweck bereitete sie pädagogisches Material in unterschiedlicher, für die einzelnen Kinder geeigneter Größe vor, damit sie Aktivitäten und Vorgänge des Alltags problemlos selber ausführen können. Dazu gehörte Übungsmaterial für die Feinmotorik, beispielsweise Drücken kleiner Gegenstände und das Zumachen von Knöpfen, sowie Übungsmaterial für Aktivitäten wie das Halten sowie Herumtragen von Gegenständen und Laufen, das Kinder ganz von selbst ohne besonderes Training erlernen können. Wichtig war dabei, dass Bewegungen vorgemacht werden, die Erwachsene als schön ansehen, und die Kinder dazu gebracht werden, diese Bewegungen vertrauensvoll nachzuahmen. Auf diese Weise lernen Kinder spontan bis zu dem Punkt, an dem sie diese Bewegungen genauso ausführen können. Kinder entwickeln Fähigkeiten, indem sie sie erlernen. Sie sind nur in der Lage zu lernen, wenn ihnen die Erwachsenen bewusst eine entsprechende Umgebung bieten. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse beinhaltet die Montessori-Pädagogik Übungen, wie man sich richtig verhält, wenn man jemanden begrüßt, gähnt, hustet, wie man sich richtig ausdrückt und wie man auftritt. Das Üben einfacher Tätigkeiten im Haushalt wie Putzen, Kochen, Nähen, Schuheputzen u. Ä. von kleinen Kindern ist ein ganz besonderer Aspekt der Montessori-Methode, den andere Früherziehungsmethoden nicht kennen. Auch wenn das Erlernen von Alltagsdingen heutzutage immer mehr an Bedeutung gewinnt, wobei der Schwerpunkt auf bewusster Ernährung liegt, ist es doch erstaunlich, dass bereits vor hundert Jahren auf die Bedeutung einer derartigen Erziehung hingewiesen wurde. Teilweise ist dies darauf zurückzuführen, dass Montessori eine Frau war. Anhand dieser Übungen übernehmen Kinder leichter eine eigene Rolle in der Familie, auch wenn diese noch so klein sein mag, und entwickeln ein Bewusstsein für ihre Rolle und Stellung in der Familie. Statt Kinder zu sein, die den erwachsenen Familienmitgliedern zur Hand gehen, können sie sich selbst eher als Mitglied dieser Familie fühlen. Auf diese Weise hat die Montessori-Pädagogik Ausbildung und Familienleben miteinander kombiniert. Stilleerziehung ist ein weiterer Aspekt der Montessori-Methode. Dabei wird eine Anpassung an die gesellschaftlichen Regeln wie auch an die Regeln der Erwachsenen gefördert. Dies dient der Weitergabe kultureller Werte, könnte jedoch dazu führen, dass Erwachsene Kindern ihre Lebensweise aufoktroyieren. Für Montessori waren Rücksichtslosigkeit, planlose Bewegungen und sinnloses Getrippel von Kindern lediglich Ausdruck von Unordnung und mangelnder Erziehung und ging sowohl Erwachsenen als auch Kindern auf die Nerven. Dieser Ansatz erinnert uns an die Art der Erziehung in katholischen Familien der Oberklasse in Europa zu ihrer Zeit.
3-2 Sinneserziehung
Montessori ging davon aus, dass die
Sinne Grundlage aller geistigen Aktivitäten sind. Wenn die Sinne angeregt
werden, wird auch das Gehirn aktiviert. Wenn sich das Gehirn entwickelt, kann es
die Bewegungen des Körpers bewusst steuern. Die Entwicklung des Gehirns ist mit
der Ausbildung des Geistes gleichzusetzen und dient letztendlich der
Persönlichkeitsbildung. Montessori entwarf pädagogisches Material, das Kindern
dabei behilflich ist, alle fünf Sinne getrennt voneinander einzusetzen und zu
unterscheiden (Tastsinn, Geschmackssinn, Gehörsinn, Gesichtssinn und
Geruchssinn). Bei der Ausbildung des Tastsinns, Gehörsinns, Geruchssinns und
Geschmackssinns sind Kinder beispielsweise gezwungen, bestimmte Gegenstände mit
verbundenen Augen zu berühren und ihre Wärme und ihr Gewicht zu erfühlen sowie
die verschiedenen Materialien, Töne, Gerüche und Geschmacksrichtungen zu
erspüren. Bei der Ausbildung des Gesichtssinns werden Kindern verschiedene
Größen, Längen, Farben und Formen in einer bestimmten Reihenfolge vorgelegt, die
auf bestimmten mathematischen Regeln basiert. Sie lernen dabei, Raum,
Reihenfolge und Übereinstimmung zuzuordnen. Die Entwicklung der Sinne durch
systematische Übungen bildet die Grundlage für die Entwicklung der Intelligenz.
Zu dem bekanntesten pädagogischen Material, das Montessori bereits in einem sehr
frühen Stadium entwickelte, gehören die zylindrischen Blöcke, die aus zehn
Blöcken unterschiedlichen Durchmessers und unterschiedlicher Höhe bestehen.
Dieser Ansatz von Vergleich und Analyse wird jedoch gerne kritisiert,
beispielsweise von Henry Wallon. Dieser ist der Ansicht, dass die Sinne von
Kindern in „einer ungewöhnlichen abstrakten Existenz“ gefangen werden und dabei
die Bedeutung der kindlichen Sensibilität in ihrer natürlichen Form ignoriert
wird.
3-3 Mathematische Grundbildung
Basierend auf der Sinneserziehung fügte Montessori noch weitere
Präzisionselemente hinzu und entwickelte daraus eine Methode der mathematischen
Grundbildung. Statt reinem Zählen legt die Montessori-Methode großen Wert
darauf, das Konzept der „Menge“ sowie der Begriffe, die für Menge stehen, zu
lehren. Für die Visualisierung der Zahlen bis 1000 verwendete sie Perlen und
Holzspäne. Ziel war es dabei, den Kindern Menge über den Gesichtssinn
verständlich zu machen, damit sie Mathematik mit Hilfe physikalischer Erlebnisse
erkennen. Montessori wusste, dass die mathematische Grundbildung von kleinen
Kindern besser angenommen wird als die Spracherziehung, bei der sie sich auch
mit der Kultur als Hintergrundwissen beschäftigen müssen.
3-4 Spracherziehung
Zunächst war die Montessori-Pädagogik für behinderte Kinder und Kinder aus armen Verhältnissen gedacht. Mit zunehmender weltweiter Popularität hielt sie jedoch auch als Erziehungsmethode für gesunde Kinder aus Familien der Oberschicht Einzug. Auf entsprechenden Wunsch seitens der Eltern begann sich Montessori auch mit der Spracherziehung zu beschäftigen. Da die Montessori-Pädagogik sich bereits als Erziehungsmethode für Einzelne innerhalb einer Gruppe etabliert hatte, stand kein pädagogisches Material zur Verfügung, das laut vorgelesen werden konnte, da es die Ruhe stören würde. Der Schwerpunkt lag auf pädagogischem Material, das die Fähigkeit zu schreiben fördern sollte. Was die Fähigkeit zu sprechen und hören anbelangt, lernen Kinder in einem frühen Erziehungsstadium, wie sie richtig grüßen, jemanden um etwas bitten, wie sie Dankbarkeit ausdrücken und jemandem zuhören, indem sie durch Übungen aus dem täglichen Leben Selbstsicherheit entwickeln. Der Entwicklungsgrad von Material für die Spracherziehung ist wegen der engen Verknüpfung von Spracherziehung und deren kulturellem Hintergrund jedoch nicht so hoch. Anhand dieses Materials lernen die Kinder nur auf die gleiche Weise, die Buchstaben des Alphabets zu schreiben, wie sie es lernen, Zahlen zu schreiben.
4. Montessori-Pädagogik mit behinderten Kindern
Montessori begann damit, geistig behinderte Kinder zu unterrichten, die in der Vergangenheit nur als Objekt für die medizinische Wissenschaft angesehen worden waren. Sie bewies, dass sich Kinder durch entsprechende pädagogische Maßnahmen ändern können. Es ist jedoch bedauerlich, dass sich Montessori damals nur mit Kindern beschäftigte, die einen IQ von 75 bis 90 erreichten, ihrer Definition von geistig behinderten Kindern, und mit Kindern, die auf Grund von Armut keine Aussicht auf eine ausreichende Bildung hatten. Heute werden die Lernhilfen von Montessori für die Sinnesschulung in ihrer ursprünglichen Form nur für die pädagogische Erziehung sehbehinderter Kinder in Japan eingesetzt. Für andere Bereiche der Förderpädagogik müssen noch einige zusätzliche Merkmale ausgearbeitet werden.
Bibliographie
Paula Polk LIllard: Montessori-A Modern Approach. Schocken Books Inc. New
York City, USA 1972.
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