Gesellschaft und Wirtschaft im Sozialstaat (Wohlfahrtsstaat)

Hitomi MIYAMOTO, Takeshi MATSUISHI

Yokohama National University, Abteilung für Disability Studies (Behinderungswissenschaft )


     Sinkende Geburtsraten sind ein ernstes soziales Problem in Japan. Der Geburtenrückgang wirkt sich nicht nur auf die Einwohnerzahlen aus, sondern auch auf die Wirtschaft, das soziale Netz (z. B. Renten) und den Arbeitsmarkt.  Angesichts der wachsenden Ungewissheit der Zukunft müssen wir ein Verfahren zur Bewertung und Bestimmung des Sozialsystems einschließlich der staatlichen Renten, des öffentlichen Gesundheitswesens und anderer Sozialleistungen entwickeln, die in Zukunft benötigt werden.   In diesem Artikel wird der geschichtliche Hintergrund des Sozialstaats beleuchtet. Anschließend werden die Wohlfahrtsregimes einzelner Länder verglichen.

     Der Begriff „Wohlfahrtsstaat“ stammt aus Max Webers posthum veröffentlichten Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“.  Deutschland vollzog in den 1880ern und 1890ern den dramatischen Wandel der Industrialisierung, zu dessen Begleiterscheinungen Arbeitskämpfe und Fragen des Arbeitsrechts zählten.  Gleichzeitig setzt sich die sozialistische Bewegung verstärkt für die Vereinigung des Proletariats ein, die Klasse der Lohnarbeiter.  Zur Beschwichtigung der Arbeiter und um die Verfestigung dieser politischen Bewegung zu verhindern, führte der damalige Kanzler Bismarck eine Reihe von Gesetzen zu Sozialversicherungssystemen ein, darunter die Krankenversicherung, Unfallversicherung und Altersversicherung.

     Andere Länder, die ähnliche Probleme mit der Industrialisierung und den damit verbundenen sozialen Problemen erlebt hatten, führten ebenfalls Sozialversicherungssysteme nach dem deutschen Vorbild ein, um den sozialen Frieden zu wahren. Die zukunftsweisenden Sozialversicherungssysteme, die Bismarck einführte und verfeinerte, sind besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass in Japan zur gleichen Zeit nicht einmal die Reichsverfassung durchgesetzt wurde.

  Auf diese Entwicklungen waren der erste und zweite Weltkrieg gefolgt.  In Ländern unter nationalsozialistischer Regierung oder Besatzung konnten die Einwohner keinen Anspruch auf Sozialversorgung oder Menschenrechte stellen.  In anderen Ländern wurde die Entwicklung der Wohlfahrtssysteme jedoch durch die Kriege begünstigt. Diese Maßnahmen zur Stärkung der nationalen Moral schufen die Grundlage für die sozialstaatlichen Systeme der Nachkriegszeit.  Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs führten die Industrienationen sozialstaatliche Systeme ein, die den historischen und nationalen Gegebenheiten und dem sozialen Wandel in den einzelnen Ländern entsprachen.  Die wirtschaftliche Entwicklung, die bis zur ersten Ölkrise in den 1970ern andauerte, begünstigte die Erweiterung und Harmonisierung des sozialen Netzes.  Diese Zeit kann daher als „Ära des sozialstaatlichen Fortschritts“ bezeichnet werden.

     Das Ende des allgemeinen Wirtschaftswachstums nach der ersten Ölkrise stürzte die Sozialstaaten jedoch in eine Krise.  Vergleichende Untersuchungen der Sozialstaaten in den 1970ern und 1980ern führten viele Argumente für das „Ende des Wohlfahrtsstaats“ an und dienten der neuen Generation der Politiker als Grundlage für die Entwicklung neuer sozialstaatlicher Modelle.  Heute vollziehen viele der hochentwickelten Staaten angesichts von Haushaltslöchern, Geburtenrückgang und Überalterung der Bevölkerung Reformen des sozialen Netzes.

     Gøsta Esping-Andersen erarbeitete die folgenden drei Modelle, die als Bezugspunkte für Überlegungen zur künftigen Entwicklung der sozialstaatlichen Systeme dienen:
1) Sozialdemokratisches Wohlfahrtsregime  Dieses Modell beruht auf persönlicher Freiheit und staatlicher Verantwortung.  In der Regel werden die skandinavischen Länder diesem Modell zugeordnet.  Das Modell finanziert sich in erster Linie aus Steuern.
2) Konservatives Wohlfahrtsregime  Dieses Modell beruht auf der Familie und traditionellen Kommunen.  Es handelt sich um eine Art soziales Netz auf der Grundlage gegenseitiger Unterstützung.  Als Beispiele werden meist Deutschland und Frankreich angeführt.  Das Modell finanziert sich vorwiegend aus Sozialversicherungsbeiträgen und auch aus Steuern.
3) Liberales Wohlfahrtsregime  Dieses Modell beruht auf persönlicher Freiheit und individuellen Beiträgen.  Das Grundprinzip ist die Eigenverantwortlichkeit.  Als Beispiel gelten die USA, in denen die freie Marktwirtschaft bestimmend ist.  Das Modell finanziert sich aus privaten Versicherungsbeiträgen anstelle von Sozialversicherung und Steuern.

 Das soziale Netz in Japan wurde nach den Prinzipien des konservativen Wohlfahrtsregimes eingeführt, wie es in Deutschland und Frankreich praktiziert wird, umfasst inzwischen aber auch Elemente des sozialdemokratischen Modells.  Es weist Züge des südeuropäischen Wohlfahrtsregimes nach dem italienischen und spanischen Vorbild auf, insbesondere im Umfang der Sozialausgaben und in der Unterstützung durch und für Familienmitglieder.

     Die Entwicklung der japanischen Gesellschaft führte zum Untergang traditioneller Kommunen, und auch die Beziehung der Unternehmen und Familien zu Einzelpersonen hat sich gewandelt.  Inzwischen entwickelt sich die Einzelperson zum Grundstein der japanischen Gesellschaft.  Das Wohlfahrtsregime beruht jedoch noch immer auf traditionellen Kommunen und auf der Familie.  Die derzeitige Situation in Japan ist daher vom Mangel an neuen Nachfolgern für diese alten Kommunen und der Isolation des Einzelnen geprägt.  Somit befindet sich das Wohlfahrtssystem in Japan in einer Übergangsphase.  Wenn die traditionellen Kommunen wirklich für immer verschwunden sind, sollten wir das liberale Wohlfahrtsregime nach dem US-amerikanischen Vorbild übernehmen, das auf Eigenverantwortlichkeit und einem minimalen sozialen Netz beruht?  Oder folgen wir dem sozialdemokratischen Modell der skandinavischen Länder und entwickeln ein System, in dem der Einzelne das Wohl der Öffentlichkeit über seine eigenen Interessen stellt?  Vielleicht besteht unsere Herausforderung in der Wahl unseres eigenen Regimes nach dem Vergleich dieser beiden gegensätzlichen Modelle aus den USA und aus Skandinavien.

Literaturverzeichnis

Gøsta Esping-Andersen: The three worlds of welfare capitalism, PRINSTON PAPERBACKS. 1998

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