Forschung zu Kinderzeichnungen

Reiko KITAHARA, Takeshi MATSUISHI


   „Der Mensch ist ein Werkzeug herstellendes Tier" (Benjamin Franklin): Menschen fertigen und verwenden zweckmäßiges Werkzeug als Erweiterung der Handfunktionen. Durch ständige Verbesserungen wurde die Handhabung des Werkzeugs schließlich so vereinfacht, dass es nicht mehr nur allein zu notwendigen Zwecken zum Einsatz kam, sondern auch zur Verschönerung des Lebens durch das Zeichnen von Bildern. Bilder verkörpern die Existenz ihres Erschaffers, seine Gedanken und seine Persönlichkeit. Und Menschen zeichnen gerne. Durch das Zeichnen leben wir unser natürliches Ausdrucksbedürfnis aus. Wer sich ausdrücken kann, empfindet dies als befreiend.

 Neben dem individuellen Ausdruck dient das Zeichnen aber auch der Kommunikation. Oft vermittelt eine Zeichnung dem Leser mehr als Sprache. Kinder verfügen noch nicht über das sprachliche Ausdrucksvermögen zur Vermittlung abstrakter Inhalte, doch sie verfügen über symbolbasierte Kommunikationswege wie z. B. Zeichnungen. Durch Bilder kommunizieren Kinder mit Bezugspersonen, entwickeln Fähigkeiten für das Leben und bauen Vertrauen auf.

 Kinderzeichnungen sind Ausdruck von Persönlichkeiten, ein Kommunikationsmittel und darüber hinaus auch ein Einblick in alterstypische Entwicklungsstufen. Kinderzeichnungen durchlaufen Entwicklungsschritte, die der Entwicklung der motorischen Fähigkeiten, der emotionalen und psychosozialen Entwicklung sowie der Entwicklung der Wahrnehmung entsprechen. Kinder zeichnen, „was sie kennen", in ihrem typischen Stil. Mit anderen Worten: Die Funktionen Wahrnehmung, Einfühlungsvermögen/Emotionen und Motorik interagieren, der Faktor der Sozialerfahrung kommt hinzu und das Bild wird auf das Papier gezeichnet.

 Die moderne Forschung zu Kinderzeichnungen basiert auf den Phasen Entwicklungsforschung (entwicklungsorientierter Ansatz), Intelligenzforschung (psychometrisch orientierte Forschung) und Persönlichkeitstest (Projektionsansatz). Ein umfassender Ansatz der Forschung zu Kinderzeichnungen setzt Kenntnisse dieser drei Phasen voraus.

  Beim entwicklungsorientierten Ansatz liegt der Schwerpunkt auf den Fähigkeiten des zeichnenden Kindes. Diese Fähigkeiten ändern sich altersbedingt.

 Damit Gedanken zu Papier gebracht werden können, muss die Koordination der Finger entwickelt werden. Darüber hinaus zeichnen Kinder, was sie kennen. Was sie kennen und was sie mitteilen möchten, wird nicht nur wie gesehen, sondern im individuellen Stil des Kindes ausgedrückt. Das Maß, in dem das Kind sich seiner Umgebung bewusst ist, beeinflusst somit unmittelbar den Inhalt der Zeichnungen.

   Voraussetzung für das Zeichnen ist ein Interesse an vertrauten Gegenständen und Ereignissen. Einfühlungsvermögen, Gefühle wie Freude, Wut, Trauer oder Zufriedenheit sowie emotionale Entwicklung werden beim Zeichnen eingebracht.

Wie bereits erwähnt, fördert die Entwicklung diverser Fähigkeiten die Entwicklung des Ausdrucksvermögens beim Zeichnen. Lebenserfahrung und eine erweiterte Weltsicht haben beträchtlichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Fähigkeiten beim Zeichnen. Durch ihren Ausdruck in Bildern setzen sie sich im Bewusstsein des Kindes fest, erweitern die Kreativität und das alltägliche Leben. Daraus wiederum ergeben sich Fortschritte in der Entwicklung des Kindes oder in seinen Fähigkeiten beim Zeichnen.

   Alle Kinder durchlaufen bestimmte Entwicklungsschritte in ihren Zeichnungen. Trotz der unterschiedlichen Lebensbedingungen lässt sich bei Kindern in aller Welt ein gemeinsamer Entwicklungsprozess beobachten. In Kinderzeichnungen könnten daher die Urformen des Zeichnens zu finden sein.

    Neben den bereits erwähnten individuellen Unterschieden beeinflussen u. U. auch die Umgebung und die Erziehungsmethoden die Entwicklung des Zeichnens.

    Wie bereits erwähnt, lässt sich anhand von Kinderzeichnungen die Entwicklung der Fähigkeiten sowohl in den alterstypischen Schritten als auch entsprechend den umwelt- und erziehungsbedingten Faktoren verfolgen.

   Der psychometrische Ansatz stellt einen Zusammenhang zwischen Zeichenfähigkeiten und intellektueller Entwicklung her. Zeichnungen könnten daher als ein Maß für die Beurteilung des intellektuellen Entwicklungsstands herangezogen werden.

    Im Jahr 1908 wurden in der Schweiz die Ergebnisse einer Untersuchung von 9.746 veröffentlicht. Dabei lag der Prozentsatz der hochintelligenten Kinder unter den Kindern, die gut zeichnen konnten, weit über dem der Kinder mit minderer Intelligenz. Im frühen 20. Jahrhundert wurde eine Vielzahl von Forschungsverfahren entwickelt, bei denen z. B. die Fähigkeiten beim Kopieren oder Vervollständigen von Bildern ermittelt wurden.

    Das bekannteste dieser Verfahren ist DAM (Draw-a-Man, Menschen-Zeichnen-Test), im Jahr 1926 von Goodenough entwickelt. Bei diesem Intelligenztest werden Portraitzeichnungen zur Messung des Intelligenzquotienten (IQ) verwendet. Beim Zeichnen einer Person geht es nicht allein um die Darstellung der menschlichen Form, sondern auch um den Ausdruck einer Persönlichkeit. Portraitzeichnungen zeigen daher sowohl das Selbst als auch ein Abbild anderer und beruhen auf der Wahrnehmung von Selbstannahme, visuellen Informationen, gelerntem Wissen und eigenen Erfahrungen.

    Bei Goodenoughs Test wird die Anzahl der Zeichnungen gewertet, die exakt den Umriss eines Kopfes, die richtige Anzahl an Fingern usw. wiedergeben. Kinder, die viele Einzelheiten zeichnen, erzielen ein hohes Ergebnis. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die detailliertesten Zeichnungen von den intelligentesten Kindern stammen. Dieses Bewertungsverfahren ist daher unzureichend, und die Ergebnisse werden von der Mehrheit der Forscher angezweifelt. Dennoch ist dieser Test aufgrund einer Reihe von Vorteilen weit verbreitet. Dazu zählen die Möglichkeit zur Verknüpfung mit anderen Formen der Intelligenztests, die einfache Anwendung und die Förderung der Kommunikation mit Kindern.

   Weil es sich beim DAM um einen praktischen Test handelt, kann damit auch die Intelligenz von sprachgestörten oder hörgeschädigten Kindern gemessen werden. Der Test wird in der Regel nur bei Testpersonen mit einem geistigen Alter von weniger als neun Jahren eingesetzt, eignet sich aber nicht nur für Kinder, sondern auch für geistes- und verhaltensgestörte Erwachsene.

    Die Effektivität des psychometrischen Ansatzes wie bei DAM ergibt sich aus dem Anwendungsverfahren. Dies wiederum ist eine bedeutende Grundlage für das Projektionsverfahren nach Machover, K. Personality Projection in the Drawing of the Human Figure.

 Der Projektionsansatz konzentriert sich auf das Innere des Zeichnenden. Die Zeichnung sagt somit mehr über den Zeichnenden selbst aus als über ihren Gegenstand. In einer Zeichnung eines Baumes bringt der Zeichnende also weniger den Baum selbst zum Ausdruck als vielmehr den eigenen geistigen Zustand. Diese Tendenz ist bei Kindern besonders ausgeprägt.

   Das Zeichnen wird zum symbolhaften Ausdruck des Unterbewusstseins. Das Unterbewusstsein kann sich durch Symbole (durch Zeichnen) äußern. Das Zeichnen ist die direkte Kommunikation mit dem Unterbewusstsein, die sich im Gegensatz zur verbalen Kommunikation weniger leicht verstellen lässt. Wenn eine Zeichnung aus dem Unterbewusstsein stammt, wird eine große Menge an psychologischen Informationen erstellt, und die Zeichnung erlaubt einen Einblick in die Psyche ihres Schöpfers.

     Beim Deuten eines Bildes muss stets auf den ersten Eindruck geachtet werden, den das Bild hervorruft. Vor einer Analyse muss also das erste Gefühl betont werden, das ein Bild beim Betrachter (oder „Leser“) hervorruft. Der Deuter muss sich der ersten emotionalen Reaktion bewusst sein und diese Information festhalten. Gelegentlich kann das Gefühl beim ersten Blick auf das Bild auf einen unmittelbaren Kontakt mit dem Unterbewusstsein des Zeichnenden hindeuten. Es ist daher wichtig, das Bild als Ganzes zu betrachten, anstatt den Schwerpunkt auf die Deutung einzelner Symbole zu legen. Das Ganze ist mehr als nur die Summe seiner Teile. Dies ist eine der Grundlagen der Gestalttherapie.

     Bei Kleinkindern ist der Gegenstand einer Zeichnung zweitrangig, denn das Zeichnen erfolgt in einer Dimension, in der die psychologische und die physische Dimension vereint sind. Wenn die Kinder älter werden, wächst die Bedeutung des Themas. Ein Symbol oder Thema, das sich innerhalb einer Zeichnung wiederholt, lohnt eine nähere Untersuchung, denn es könnte eine versteckte Bedeutung haben. Symbole und Themen wurzeln oft in unterbewussten Gedanken, Gefühlen und Handlungen.

  Beim freien Zeichnen gibt die Wahl der Themen einen Einblick in die versteckten Wünsche und Bedürfnisse des Kindes.
 Eine Untersuchung der Zeichnungen von Kindern aus dem ersten bis zum fünften Schuljahr in Florenz deckte eine interessante Tendenz auf. 60 Prozent der freien Zeichnungen von Kindern zwischen sechs und sieben Jahren stellten Häuser dar. In diesem Hauszeichnungen waren nur wenige andere Objekte (wie z. B. Bäume oder Blumen) zu sehen. Das Haus symbolisiert die „Emotionen und die Stabilität des Zuhause, eines Orts, an dem die grundlegenden Bedürfnisse erfüllt werden“. In der Kindheit spielt sich ein Großteil des Lebens daheim ab, daher wird das Haus oft gezeichnet. Kinder von zehn oder elf Jahren zeichnen das Haus als Teil einer umfassenderen Komposition mit Bäumen, Blumen und der Sonne. Die Welt des Kindes reicht inzwischen über das Haus hinaus. Diese allmähliche Umstellung spiegelt eine Erweiterung der Interessen und Bedürfnisse wieder, bei denen die starke familiäre Bindung der Kindheit schrittweise abgelegt wird.
  
  Zeichnungen mit Projektionsmerkmalen können nicht nur zur Analyse genutzt werden, sondern auch für die Diagnose und Therapie.
   Viele Forscher vermissen an der Projektionsmethode eine wissenschaftliche Grundlage. Es lässt sich nicht leugnen, dass die subjektive Betrachtung durch den Leser beträchtlichen Einfluss auf die Analyse der Bilder hat. Trotz der unzureichenden Zuverlässigkeit und Objektivität der Projektionsmethode für die Psychoanalyse stellt sie für erfahrene Kliniker ein nützliches Werkzeug dar. Wer mit ihr vertraut ist, kann Hinweisen nachgehen, die bei standardisierten klinischen Tests nicht aufgedeckt werden. Unter dem klinischen Gesichtspunkt kann der Therapeut die Zeichnungen für den Aufbau einer Beziehung zum Zeichnenden nutzen und gleichzeitig einen Einblick in die Persönlichkeit des Patienten erhalten.
 
  Der Vorgang des Zeichnens ist oft eine wirkungsvolle Ausdrucksform. Durch die Symbole kann der Geisteszustand aus dem Unterbewusstsein in das Bewusstsein übertragen werden. Bilder können als Symbole komplexe Verhalte darstellen, die vom naturgemäß begrenzten Bewusstsein nicht auf einen Blick zu verstehen sind. Es ist daher normal, dass ein Symbol (eine Zeichnung) in bestimmten Aspekten ungeklärt und ungedeutet bleibt und dass der Zeichnende selbst die Zeichnung nicht verstehen kann. Durch Zeichnungen können jedoch Informationen mit unterdrückten wie auch ausgedrückten geistigen Ebenen ausgetauscht werden. Zeichnungen setzen unterbewusst unterdrückte geistige Energie frei. Diese geistige Energie kann beim Überwinden von Problemen helfen. Und genau darin liegt vermutlich die Begründung für den Einsatz des Zeichnens als Teil der Psychotherapie. Letztendlich behandelt der Therapeut jedoch das Individuum, und die Bilder sind lediglich ein Kommunikationsmittel.
   Die Bildanalyse ermöglicht eine gezielte Bewusstseinsbildung, und durch eine Erweiterung des Bewusstseins wird dem Missbrauch oder der Missachtung des Unterbewusstseins vorgebeugt. Der Inhalt des Unterbewusstseins kann also in das Leben integriert werden. Eine solche Entwicklung legt den Grundstein für die Ausreifung geeigneter Charaktermerkmale und somit für ein erfüllteres Leben.
  
 Wie oben erwähnt, untersuche ich Kinderzeichnungen unter drei Gesichtspunkten.

  Ein Bild kann viele Bedeutungen haben. Im Zuge der Forschungsarbeiten konnte ich beobachten, dass Zeichnungen viel über Kinder aussagen. Dabei kann es sich um Aspekte ihrer Entwicklung handeln oder um ihre verborgene Persönlichkeit. Durch die Zeichnungen konnte ich den Kindern näher kommen. Bei gezielter Nutzung können Bilder ein hilfreiches Kommunikationsmittel sein.

Literaturverzeichnis
1)Philippe Wallon: Le dessin d'enfant. Presses Universitaires de France, Paris 2001.
2)Phillippe Wallon, Anne Cambier, Dominique Engelhart: Le dessin de L'enfant. Presses Universitaires de France, Paris 1990.
3)Joseph H. Di Leo: Child Development: Analysis and Synthesis. Brunner/Mazel Publisher. 1996.
4)Joseph H. Di Leo: Interpreting children's drawings. Brunner/Mazel Publisher.1983

(Ursprünglich veröffentlicht auf Journal of Disability and Medico-Pedagogy Vol.15.2007

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