Untersuchung zu geistig behinderten Strafgefangenen in japanischen Gefängnissen

Misaki MORIE, Takeshi MATSUISHI


Yokohama National University, Fakultät für Erziehung und Humanwissenschaften,
Abteilung für Heilpädagogik
           

1Einleitung

Der vom japanischen Justizministerium (MOJ, Ministry of Justice) veröffentlichte Annual Report of Statistics on Correction (Jahresbericht zur Vollzugsstatistik) beinhaltet ein Kapitel mit dem Titel „Intelligence Quotient of Newly Convicted Prisoners“ (Intelligenzquotient kürzlich verurteilter Strafgefangener). Dem Jahresbericht von Juli 2006 zufolge erreichten 7.097 der 30.277 kürzlich verurteilten Strafgefangenen (ca. 23 %) bei einem Intelligenztest 69 Punkte oder weniger. Darunter waren auch 1.926 neue Gefängnisinsassen, die als „nicht testfähig“ kategorisiert wurden. Fast 30 % der kürzlich verurteilten Strafgefangenen gelten als geistig zurückgeblieben.1).

Diese Arbeit befasst sich zunächst mit der Genauigkeit dieser Daten. Sofern diese anfängliche Untersuchung bestätigen sollte, dass ein wesentlicher Teil der Strafgefangenen in japanischen Gefängnissen geistig zurückgeblieben ist, soll im Folgenden untersucht werden, welche systemischen Probleme für diesen Zustand verantwortlich sind und welche Ausbildungs- und Sozialprogramme für geistig zurückgebliebene Strafgefangene zur Verfügung stehen. Abschließend befassen wir uns mit möglichen Maßnahmen, die seitens der Regierung in Zukunft neben den bereits umgesetzten oder geplanten Programmen getroffen werden können.

2. Anteil geistig behinderter Insassen in japanischen Gefängnissen

Die Genauigkeit der Daten aus dem Annual Report of Statistics on Correction wurde angezweifelt, da sie sich ausschließlich auf Daten aus dem CAPAS-Test stützen, einem Intelligenztestverfahren, das für den alleinigen Gebrauch innerhalb des japanischen Justizvollzugssystems entwickelt wurde. Zum Zwecke der Neubewertung der Genauigkeit der Datenlage wurde 2006 eine Untersuchung mit 27.024 Häftlingen aus 15 zufällig ausgewählten Strafanstalten durchgeführt. Das Ergebnis dieser Untersuchung, die hauptsächlich auf den Ergebnissen individueller Intelligenztests sowie auf Untersuchungen durch professionelle Psychiater beruhte, lag der Anteil der Personen, die als geistig behindert eingestuft wurden, tatsächlich weitaus niedriger: Lediglich 410 Personen bzw. 1,5 % aller kürzlich verurteilten Strafgefangenen2). Abgesehen von diesem unerwarteten Ergebnis lenkte die Untersuchung die Aufmerksamkeit auf ein weiteres, noch gravierenderes Problem: Von den 410 Personen, die als geistig behindert eingestuft wurden, verfügten lediglich 26 (6,3 %) über einen Behindertenausweis zum Nachweis einer geistigen Behinderung. Laut Annual Report of Statistics on Correction aus dem Jahr 2006 hatten gemäß CAPAS-Test 7.563 von 33.032 kürzlich verurteilten Strafgefangenen einen IQ von 69 oder weniger Punkten. Von ihnen besaßen jedoch nur 265 Personen einen Behindertenausweis4). Wenn also tatsächlich lediglich 6,3 % der als geistig behindert eingestuften Häftlinge einen Behindertenausweis besitzen, wie die Untersuchung aus dem Jahr 2006 ergeben hat, dann haben auch die weiteren 4.206 (oder 12,7 %) der kürzlich verurteilten Strafgefangenen, die als geistig behindert eingestuft wurden, ein Anrecht auf einen Behindertenausweis. 

 Unserer Schätzung nach liegt der Anteil der geistig behinderten Insassen in japanischen Gefängnissen bei 10 bis 15 % aller Häftlinge. Diese Schätzung entspricht der von norwegischen Wissenschaftlern erhobenen Datenlage, laut der 10,8 % der Häftlinge in Norwegen geistig behindert sind5).

3. Geistige Behinderungen und das Sozialsystem

 Dem Annual Report on Government Measures for Persons with Disabilities (Jahresbericht über Maßnahmen der Regierung für Personen mit Behinderungen) des japanischen Cabinet Office aus dem Jahr 2005 zufolge verfügen von 3,6 Mio. geistig behinderten Personen 459.000 über einen Behindertenausweis als Nachweis der geistigen Behinderung. Das heißt, dass 12 % aller geistig behinderter Menschen in Japan einen solchen Ausweis besitzen. Demgegenüber liegt der Prozentsatz der geistig behinderten Häftlinge, die einen Behindertenausweis besitzen, bei gerade einmal 6,3 %. Damit ist der Anteil der Personen, die einen Behindertenausweis zum Nachweis einer geistigen Behinderung besitzen, in den Gefängnissen lediglich halb so hoch wie außerhalb der Anstalten. Daraus wird ersichtlich, dass Gefängnisinsassen tendenziell seltener über einen Behindertenausweis verfügen, der ihre geistige Behinderung nachweist, und daher seltener in den Genuss von Unterstützungsleistungen in Form sozialer Programme gekommen sind.

4. Vom Gefängnis zu Sozialleistungen und Bildung

 Laut Annual Report of Statistics on Correction, sind etwa 70 % aller geistig behinderten Strafgefangenen Wiederholungstäter, die bereits mindestens eine Gefängnisstrafe verbüßt haben. Etwa 20 % von ihnen gelten als Intensivtäter mit zehn oder mehr Vorstrafen. Diese negative Entwicklung hat dazu geführt, dass Gefängnisse heute in gewisser Hinsicht als Einrichtungen für geistig Behinderte fungieren. Viele geistig Behinderte werden aufgrund minderschwerer Verbrechen verurteilt. Viele von ihnen können nach ihrer Entlassung keinerlei Sozialleistungen beziehen. Sie sind daher häufig obdachlos oder leben unter ähnlichen Bedingungen, und werden in der Folge erneut straffällig, indem sie Diebstähle oder Scheckbetrug begehen. Dies zieht dann eine erneute Haftstrafe nach sich. Dieses gewohnheitsmäßige Verhalten wird wahrscheinlich zumindest teilweise durch die Tatsache ausgelöst, dass die geistig behinderten Häftlinge keinen Behindertenausweis zum Nachweis einer geistigen Behinderung besitzen und daher keinen Zugang zu Sozialleistungen haben. Ohne Behindertenausweis, mit dem vorbestrafte geistig Behinderte Zugang zu bestimmten Unterstützungsleistungen wie Steuererleichterungen oder Arbeitsvermittlung erhalten, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Betroffenen erneut straffällig werden, da sie Schwierigkeiten haben, ihr Existenzminimum zu sichern. Darüber hinaus sind soziale Einrichtungen oft nicht bereit, vorbestraften Personen Hilfe zu gewähren, wenn diese nicht über einen Behindertenausweis verfügen.

Am 18. Mai 2008 verabschiedete das japanische Justizministerium (MOJ, Ministry of Justice) ein neues Gesetz über die Behandlung von Strafgefangenen, mit dem diese zur Teilnahme an Rehabilitationsprogrammen verpflichtet werden,  die sich an der Art des begangenen Verbrechens orientieren. Außerdem schlug die Forschungsabteilung des Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Soziales (MHLW, Ministry of Health, Labor, and Welfare) vor, dass das MHLW selbst sowie das MOJ 1) in jeder Präfektur ein öffentliches Resozialisierungszentrum einrichten sollten, über das der Kontakt zwischen den Strafgefangenen und den verschiedenen sozialen Einrichtungen hergestellt werden soll, und 2) die Vorraussetzungen, die für die Ausstellung eines Behindertenausweises zum Nachweis einer geistigen Behinderung erfüllt sein müssen, weniger restriktiv gestaltet werden sollen.

Des Weiteren haben MHLW und MOJ gemeinsam einen Plan entwickelt, bis Ende 2009 ein Rehabilitationszentrum einzurichten, über das ehemaligen Strafgefangene eine Beschäftigungsperspektive in der Landwirtschaft erhalten sollen5).

Zum Schluss bleibt noch zu erwähnen, dass die Stadt Yokohama den Grenzwert für verminderte Intelligenz auf 75 Punkte gemäß der Intelligenzskala nach Tanaka-Binet festgelegt hat. Das bedeutet, dass im Schnitt 5,9 % der japanischen Bevölkerung in die Kategorie geistig behinderter Personen fallen. Die Zahl der Kinder, die als geistig behindert eingestuft werden und daraufhin eine besondere Förderung erhalten, stagniert demgegenüber bei 1 %. Der Behindertenausweis zum Nachweis einer geistigen Behinderung wird nur auf Antrag ausgestellt, und viele Eltern/Erziehungsberechtigte schrecken davor zurück, einen solchen Antrag zu stellen, weil sie dadurch eine Stigmatisierung befürchten. Dies ist insbesondere bei einer leichten geistigen Behinderung der Fall. Wenn geistig behinderte Kinder jedoch nicht entsprechend gefördert werden und keinen Zugang zu Sozialleistungen haben, können Sie unsoziale Verhaltensweisen entwickeln, die in letzter Konsequenz dazu führen, dass sie straffällig werden. Erziehungsberechtigte sollten daher auf keinen Fall zögern, einen Behindertenausweis zu beantragen. Die sozialen Einrichtungen sollten im Gegenzug berücksichtigen, unter welchen sozialen Bedingungen geistig behinderte Kinder aufwachsen, und versuchen, ihnen Zugang zu möglichst vielen Hilfsleistungen zu ermöglichen, um ihre Zukunftsaussichten zu verbessern. 

Literatur

1) Annual Report of Statistics on Correction (Jahresbericht zur Vollzugsstatistik): Ministry of Justice, 2006
2) Mainichi Shinbun, 20. Juni 2007
3) Presseerklärung des Justizministeriums (MOJ, Ministry of Justice), Oktober 2006
4) The prevalence and nature of intellectual disability in Norwegian prisons S.Snderna., K.Rasmussen, T.Palmstierna & J.Nøttestad: Journal of Intellectual Disability Research, Vol.52.p1129-1137.2008.
5) Presseerklärung des Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Soziales (MHLW, Ministry of Health, Labor, and Welfare) 2008: Mainichi Shinbun, 11. Juli 2008

6) Akiko Yoshida, Tomoko Sugano, Takeshi Matsuishi: Mental Retardation Incidence in Yokohama City. Journal of disability and medico-pedagogy.Vol.5.p16-17.2002.

(ursprünglich erschienen im Journal of Disability and Medico-Pedagogy, Vol 20, 2009)

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