Geschichte und Hintergrund der Behandlung lernbehinderter Personen in den USA

Rie SHIMOYAMA, Takeshi MATSUISHI

In den letzten Jahren wurden amerikanische Konzepte und Vorgehensweisen bezüglich der Bildung lernbehinderter Kinder als erfolgreiche Ideologie in Japan eingeführt. IEP (Individuelle Entwicklungspläne) und vergleichbare Programme werden inzwischen zur Förderung lernbehinderter Kinder eingesetzt. Bei diesem Ansatz scheint die amerikanische Ideologie Pate zu stehen. Der Einführung dieser modernen Ideologie ging jedoch eine Zeit voraus, in der behinderte Personen in Amerika unterdrückt wurden. In Bezug auf wirtschaftliche und andere soziale Faktoren wurden sie als Dorftrottel behandelt und galten als Hauptschuldige aller Sozialübel. Seit den 1960ern wurde eine Reihe von Behindertengesetzen verabschiedet. In dieser Abhandlung soll die Möglichkeit untersucht werden, dass es in Japan keine ausreichende Erklärung und Diskussion der Faktoren gegeben hat, auf denen diese Gesetze beruhen. Auch einige Aspekte der Inklusion müssen untersucht werden.

Ist die Einstellung Behinderten gegenüber in den USA wirklich so positiv? Welche Ursachen hat der Wandel der Einstellungen zu und Auffassungen von Behinderungen? In dieser Abhandlung wird die Geschichte der behinderten Personen in Amerika und ihres Bildungssystems untersucht. Die Studien des Verfassers und neu aufgedecktes Material werden diskutiert.

Der zweite Teil dieser Abhandlung befasst sich mit der Entwicklung des Umgangs mit lernbehinderten Personen in den USA. Nach einer nahezu mittelalterlichen Zeit erleben wir nun die Entwicklung festgeschriebener Rechte wie z. B. der ADA (Americans with Disabilities Act, US-amerikanisches Behindertengesetz) und Inklusion. Das neue Behindertenrecht beeinflusst auch Aspekte der akademischen Forschung zu Lernbehinderung in Japan, darunter Bildungsförderung, Gesundheitswesen und wirtschaftliche Aktivität.

Diese Abhandlung stellt eine Diskussion der folgenden Themen unter Verweis auf relevante Literatur vor:

Aus diesen Aspekten entstehen u. a. die folgenden Fragen.

(a) War die Einstellung zu lernbehinderten Personen in den USA stets positiv?

(b) Wie groß ist der Einfluss der Eugenik, die ihre ideologische Hochburg in Europa hatte, auf die USA und auf die Einstellung ihrer Einwohner?

(c) Was war der Anlass für den Wandel in der Haltung der Regierung zu lernbehinderten Personen während der 1960er?

Einige Gedanken zu diesen Fragen sind hier wiedergegeben.

Die erste Frage, „War die Einstellung zu lernbehinderten Personen in den USA stets positiv?“, führt zu einer Diskussion, die mit der Gründung der europäischen Sozialstaaten und der Reaktion der USA auf diese Einrichtungen beginnt. Der Vorgang der Inklusion und das Behindertengesetz (ADA) lassen vermuten, dass die USA an vorderster Front der Sozialstaaten stehen. Eine Untersuchung der Tatsachen ergibt jedoch, dass europäische Nationen seit Ende des zweiten Weltkriegs die Ideologie des sozialen Netzes vertreten, während Individualismus die dominante Theorie in den USA bleibt. Somit ist das Konzept des staatlichen Sozialwesens in den USA vergleichsweise neu. Ein Grund dafür könnte die Unvereinbarkeit des Sozialstaatskonzepts mit dem Gründungsgeist der USA sein1).

Ein weiterer Faktor ist die Tatsache, dass radikale Formen der Eugenik in Europe und die Rechtfertigung der Sterilisierung behinderter Personen2) ohne wissenschaftliche Grundlage in den USA begrüßt und weitergeführt wurden. Außerdem war der Nationalsozialismus in Deutschland eng mit eugenischer Ideologie verknüpft und hat zu einer beispiellosen Verfolgung von Menschen wie Behinderten und Juden geführt. In letzter Zeit haben jedoch mehrere Autoren 3)4) einen möglichen Zusammenhang zwischen Sterilisierung als Folge eugenischer Ideologie und der Theorie und Praxis der Eugenik in den Gesetzen zur Sterilisierung vieler US-amerikanischer Bundesstaaten aufgedeckt. Anhand des geschichtlichen Verlaufs zeigt diese Abhandlung die Entwicklung der Eugenik sowie den Umgang mit und die Einstellung zu behinderten Personen in den USA auf4).

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich in den USA die Ideologie des Sozialdarwinismus: Staatliche Unterstützung für arme und schwache Elemente der Gesellschaft verschafft diesen inkompetenten Personen einen unfairen Vorteil und hemmt so den sozialen Fortschritt, daher sollte der Staat besser nicht eingreifen. Auch heute noch deuten die starke Begrenzung der Sozialbudgets, die Gewichtung von Eigenständigkeit und Eigenarbeit sowie die Prinzipien des freien Wettbewerbs auf einen in der US-amerikanischen Gesellschaft fest verankerten Sozialdarwinismus hin. Die im Rahmen dieser Abhandlung dargelegten Fakten lassen den Schluss zu, dass diese Ideologie auch den Umgang mit behinderten Personen in den USA geprägt hat. Vom Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts lieferte Eugenik die Rechtfertigung für den Ausschluss behinderter Personen. Der Einfluss der Eugenik war in den USA aufgrund der ethnischen Vielfalt der Einwohner sowie des Expansionismus besonders ausgeprägt, was sich auch im Umgang mit behinderten Personen äußerte.

Erst mit der Regierung Kennedy in den 1960ern wurden Rufe nach besserer Behandlung behinderter Personen in den USA laut, und die Bundesregierung begann mit der Schaffung der entsprechenden gesetzlichen Grundlagen. Die dritte Frage erfordert die Untersuchung der Regierung Kennedy und ihrer Zeit, in der die Behandlung behinderter Personen in den USA eine einschneidende Wende nahm. Warum begannen die Verbesserungen im Umgang mit behinderten Personen in den 1960ern? Die Antwort liegt im Hintergrund der Bewegungen schwarzer und anderer Minderheiten für Gleichbehandlung. Ein früher Meilenstein dieser Bewegungen war der Fall Brown aus dem Jahr 1954, der an anderer Stelle dieser Abhandlung erwähnt wird. Das Urteil im Fall Brown löste heftige Proteste aus. Gerade in den Südstaaten herrschte starker Widerstand gegen ethnische Integration. Der Konflikt mit der Bundesregierung, die eine Politik der Integration verfolgte, dauerte mehrere Jahre lang an. Und dann wurde John F. Kennedy zum Präsidenten gewählt. Die einschneidende Wende im Umgang mit behinderten Personen begann mit der Regierung Kennedy und ihrer Innenpolitik. Die wachsende Ausbreitung und Bedeutung afroamerikanischer und anderer Minderheitenbewegungen sowie das politische Umfeld des Civil Rights Act (gesetzliche Verankerung der Gleichberechtigung der Rassen) schufen die Voraussetzungen für die Verbesserungen für behinderte Personen. Behindertenrechte können als Teil dieser vielfältigen Bewegungen verstanden werden, doch der persönliche Beitrag der dynamischen Kennedy-Schwester Eunice Shriver sollte nicht unterschätzt werden5).

Durch eine detaillierte Untersuchung dieser drei Fragen wird in dieser Abhandlung der Hintergrund für den Wandel im Umgang mit behinderten Personen in den USA beleuchtet.

Referenzmaterial

1)Francois-Xavier Merrien, L'Etat-Providence(Coll.<Que sais-je?>) P.U.F. Paris.2000.
2)Mark B. Adams ed. The Wellborn Science: Eugenics in Germany, France, Brazil and Russia,Oxford University Press, 1900.
3)Stefan Kuhl, The Nazi Connection-Eugenics, American Racism and German National Socialism, Oxford University Press, 1994.
4)James W. Trent.Jr, Inventing the Feeble Mind-A History of Mental Retardation in the United States, University of California Press, 1995.
5)Laurence Leamer, THE KENNEDY WOMEN – The Saga of an American Family, Villard Books, a division of Random House, 1994.

(ursprünglich erschienen im Journal of Disability and Medico-Pedagogy, Vol 13, 2006)

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