Russells Theorie der Pädagogik
            
  Yoko ONDA, Takeshi MATSUISHI

Über Russell stieß ich zum ersten Mal auf das weite Feld der Pädagogiktheorie, das Fragen wie "Was ist Bildung?", "Für wen ist sie da?", "Was sind ihre Ziele?" und "Wie sollte sie stattfinden?" behandelt. Ich beschäftige mich schon seit geraumer Zeit mit dem Thema der Pädagogik, habe mein Augenmerk aber vorwiegend auf eng gesteckte Bereiche in Bezug auf Kinder und ihre Aufgaben gerichtet wie z. B. "Was sollte man lehren und wie sollte man lehren?" Es versteht sich jedoch von selbst, dass der eigentliche Akt des Lehrens nur Teil einer umfassenderen Bildungstheorie und -praxis wie beispielsweise Russells Methodik und Theorie der Pädagogik ist.  Es mag zwar abgedroschen klingen, aber ich bin der Meinung, ein renommierter Philosoph wie Russell und ein angehender Pädagoge haben eines gemeinsam: den Wunsch, Kindern eine bessere Erziehung, eine bessere Ausbildung zu bieten.  In diesem Aufsatz werde ich mich den Fragen "Was ist bessere Ausbildung?" und "Was macht gute Ausbildung aus?" widmen, basierend auf Russells Theorie.

Zunächst müssen wir uns fragen: "Wer wird ausgebildet?"  Bis zum 19. Jahrhundert war Bildung den Kindern aus aristokratischen und/oder reichen Familien vorbehalten.  Ihre Lehrer waren Gelehrte.  Jeder Lehrer unterrichtete jeweils immer nur ein Kind.  Gewöhnliche Kinder, also die breite Masse, hatten natürlich nicht solche Chancen.  Damals wurde Bildung ausschließlich den Kindern aus aristokratischen und wohlhabenden Familien zuteil.  Diese Situation wurde von Russell heftig kritisiert. Er sagte: "Derartige Bildungsmethoden stehen nur den privilegierten Klassen zur Verfügung.  In einer egalitären Gesellschaft muss das anders sein." Er fährt fort: "Bildung muss für alle Kinder zugänglich sein; zumindest für all die Kinder, die davon profitieren können.  Das Bildungssystem, das wir anstreben sollten, ist eines, in dem jedes Kind die Gelegenheit hat, den höchsten Bildungsstand der Welt zu erreichen." Ich denke, Russells Ideal war für seine Zeit ausgesprochen radikal, und sicher musste er viel Kritik hinnehmen.  Seine Forderung hat indes bis heute nichts von ihrer Dringlichkeit und Wichtigkeit verloren.

"Kinder, die davon profitieren können" - das bezieht sich eindeutig nicht nur auf Aristokratenkinder; auch die Kinder aus Arbeiterfamilien sind hier mit einbezogen.  Auch mit einbezogen sind Kinder mit besonderen Bedürfnissen wie z. B. behinderte Kinder.  Russell fordert, dass nicht nur alle Kinder gleiche Chancen auf die bestmögliche Ausbildung erhalten müssen, sondern außerdem, dass Personen mit besonderen Bedürfnissen eine besondere Ausbildung erhalten.  Er war sich der Gefahr bewusst, dass das Anbieten gleicher Chancen zu Ungleichheit führen kann, und erkannte die Notwendigkeit individueller Ausbildung für Personen mit besonderen Bedürfnissen.  Es mag zu idealistisch erscheinen, aber gerade dieser Schwerpunkt auf individuellen Bedürfnissen (anstatt einer einheitlichen Behandlung aller) wird von der Mehrzahl aller Eltern besonders gewünscht.  

Fast achtzig Jahre ist es her, dass Russell seine Ideen zur Pädagogik vorgestellt hat, aber noch immer sind die angestrebten Ziele nicht erreicht. Die Bildungssysteme entwickelter Länder kommen Russells Ideal vielleicht näher, aber in den sogenannten Entwicklungsländern sind Kinder noch immer billige Arbeitskräfte, für deren Bildung und Ausbildung das Geld fehlt.  Auch der Zugang behinderter Kinder zu Bildung und Ausbildung ist vergleichsweise neu.

Es gab Zeiten, als behinderte Kinder nicht einmal als Menschen galten.  Sie wurden in Einrichtungen gesteckt, in denen sie keinerlei liebevolle Zuwendung erhielten und wie Tiere behandelt wurden.

Selbst noch Jahrzehnte nach Russells Forderungen erhalten nicht alle Kinder gleichwertige Ausbildung.  Seine Auffassung, dass Ausbildung "für alle Kinder zugänglich sein [muss]; zumindest für all die Kinder, die davon profitieren können" wird heutzutage jedoch von den meisten Menschen geteilt.  Auch gibt es einen neuen Ansatz, eine Pädagogik zu schaffen, die den individuellen Bedürfnissen eines jeden Kindes nachkommt.  Ich denke, dass die Entwicklung des Bildungssystems sich weiter an Russells Ideen annähern wird.

"Wozu dient Bildung?", "Welche Art von Wissen wird bei einer guten Ausbildung vermittelt?", "Welche Ziele werden mit dem Unterrichten von Kindern verfolgt?" - Mit diesen Fragen wollen wir uns beschäftigen.  Tag für Tag geht ein Kind zur Schule, lernt lesen, schreiben und rechnen, nimmt am Sportunterricht teil, unterhält sich mit Freunden und geht nach Hause.  Die Bildung ist Teil einer täglichen Routine und wird von kaum jemandem in Frage gestellt.  In anderen Ländern ist das allerdings nicht der Fall.  Einige Nomadenvölker weigern sich, ihre Kinder in die Stadt zur Schule zu schicken, um dort lesen und rechnen zu lernen.  Sie lehnen diese Form der Bildung als irrelevant ab. Was noch schlimmer ist: Sie befürchten, dass ihre Kinder durch den Aufenthalt in der Stadt fremden Kulturen ausgesetzt sind und dadurch ihre traditionelle Lebensweise zerstört wird.  Für sie bedeutet eine gute Ausbildung, zu vermitteln, wie man Vieh hütet und die traditionelle Lebensweise aufrecht erhält.  Dies erscheint ihnen besser, als ihre Kinder für "irrelevante" Lese- und Rechenstunden in die Schule zu schicken und sie somit fremden Kulturen auszusetzen.

Der Grund für die unterschiedlichen Auffassungen darüber, was gelehrt und gelernt werden sollte, liegt in der fundamentalen Frage "Wozu dient Bildung?" Russell weist auf die Diskussion darüber hin, ob "Bildung eine praktische Notwendigkeit oder lediglich eine Verschönerung des Lebens sein sollte, ob ihr Schwerpunkt auf berufsbezogenen Fähigkeiten liegen sollte, um eine Berufsausbildung schnellstmöglich zu vollziehen.  Was ist das Ziel der Bildung - füllen wir die Köpfe der Kinder mit praktischem Wissen oder mit intellektuellen Schätzen?" Russells Antwort auf die Frage, ob Ausbildung praxisbezogen sein sollte, lautet: "Selbstverständlich", denn "der Ausbildungsprozess ist ein Mittel zum Zweck und nicht der Zweck selbst." Er fährt fort: "Die Essenz des Praxisbezugs liegt darin, dass er nicht nur einen praktischen Nutzen hat.  Ein 'gutes' Endergebnis erfordert manchmal eine ganze Reihe von Ergebnissen." Ausbildung sollte darauf zielen, den Schüler glücklich zu machen. Daher lehnte Russell es ab, die Gesellschaft in praktische Notwendigkeit und Verschönerung des Lebens zu unterteilen.  Seiner Meinung nach sollten beide Formen des Wissens vermittelt werden. Kinder sollten sowohl aus praktischen Gründen als auch zum intellektuellen Vergnügen lernen.  Ausbildung sollte sowohl Nützlichkeit als auch Menschlichkeit berücksichtigen.  Ich stimme völlig mit Russell überein.  Beim Streben nach Glück ist Wissen niemals irrelevant.  Es darf nicht Zweck der Bildung sein, Kinder in bestimmte Bahnen zu zwingen.  Stattdessen muss der natürliche Lerndrang der Kinder ermutigt werden und man muss sie darin unterstützen, selbstständig und aus eigener Initiative Probleme zu lösen und sich positiv zu entwickeln.

Leider ist es nur allzu einfach, Erziehung und Ausbildung dazu zu missbrauchen, Kindern bestimmte Ansichten aufzuzwingen.  In Japan erhielten Kinder während des Zweiten Weltkriegs eine ausgesprochen einseitige Ausbildung und Weltanschauung zum Zwecke der Verherrlichung der Nation.  Ähnliches lässt sich über die Ausbildung der Nazizeit sagen.  Diese Bildungssysteme waren zwar sehr effektiv - aber die traurigen Ergebnisse kennen wir alle. Das Schlimme an diesen Situationen war, dass nicht die Kinder im Mittelpunkt der Pädagogik standen, sondern dass die Ausbildung als Mittel zum Erreichen bestimmter Zwecke missbraucht wurde.  Russell schreibt dazu: "Kinder sind nicht das Mittel, sondern der Zweck.  Pädagogen müssen Kinder mehr lieben als ihr Land oder die Kirche. Was Pädagogen geben müssen und was Kinder erhalten müssen, ist 'von Liebe durchwirktes Wissen'." Russells Ansicht nach werden Probleme wie das Hänseln von Kindern, das heute ein großes Problem ist, durch das Lehren "von Liebe durchwirkte[n] Wissen[s]" verhindert.

In seiner Forderung nach frühem Beginn der Ausbildung war Russell seiner Zeit weit voraus.  Er betont die Rolle, die die Eltern dabei spielen.  Auch die Empfänger dieser Ausbildung zum eigenen Glück und Wohlergehen müssen dafür bereit sein.  Das Formen der Persönlichkeit des Kindes beginnt bereits ab der Geburt.  Die Rolle der Eltern als Ausbilder in den Jahren der Persönlichkeitsbildung des Kindes ist außerordentlich wichtig.  Sie ist der Grundstein und der erste Schritt der Entwicklung zur Glücksfähigkeit.

In diesem Aufsatz habe ich mich mit dem Thema der guten Ausbildung befasst.  Ich bin begeistert von Russells Theorie und stimme völlig mit ihm überein.  Sein Konzept der Pädagogik ist noch stets das der idealen Ausbildung.  In welche Richtung auch immer sich die Gesellschaft entwickelt- Russells Motto der Erziehung zum Wohl des Kindes und zur Schaffung einer glücklichen Gesellschaft wird stets aktuell sein.

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