Entwicklung der Heilpädagogik auf der Basis physiologischer Ansätze

– Seguin und Kephart

Yumi KITAI, Takeshi MATSUISHI


Yokohama National University, Department of Disability Studies



 Ziel dieser Arbeit ist es, ein besseres Verständnis des Ursprungs und der Geschichte der Behandlung geistiger Behinderungen zu erlangen sowie Möglichkeiten zu finden, die gewonnenen Erkenntnisse zur Verbesserung heilpädagogischer Programme zu nutzen.

Menschen mit psychischen Störungen wurden früher als sittenlos abgestempelt. Die Notwendigkeit heilpädagogischer Erziehung wurde erst erkannt, nachdem geistige Störungen wissenschaftlich untersucht wurden und nachdem der der Begriff „mentale Retardierung“ als Diagnose anerkannt wurde. Philippe Pinel (1745–1826) versuchte als Erster, geistige Störungen zu systematisieren. In seinem Werk Philosophische Nosographie legte er das Ziel dar, Geisteskrankheiten auf wissenschaftliche und medizinische Art und Weise zu erklären und verwarf die bis dahin herrschende Auffassung, dass psychische Abweichungen auf Unmoral oder böse Geister zurückzuführen seien. Jean-Étienne Dominique Esquirol (1772–1840), ein Schüler Pinels, entwickelte daraus die Konzepte von Manie und Monomanie und schuf damit die Grundlage für eine moderne Klassifizierung psychischer Störungen, die später von Emil Kraepelin (1856-1926) eingeführt wurde. Nach Esquirols Definition ist die Manie eine geistige Störung, welche die gesamten kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt, während der Begriff Monomanie sich auf ein Leiden bezieht, das mit bestimmten irrationalen Verhaltensweisen und Vorstellungen einhergeht. Das Fehlen jeder Vernunft wird als la démence (Demenz) bezeichnet. Bei einem Fall, bei dem dieser Zustand von Geburt an besteht, spricht man von l’idiot (Idiotie). Darüber hinaus wurde la mélancolie als psychologische Abweichung eingestuft, die sich lediglich auf den Gemütszustand auswirkt. Diese von Esquirol eingeführte Klassifizierung definierte erstmals in der Geschichte das Konzept der mentalen Retardierung und grenzte diese klar von anderen psychischen Störungen ab. Obwohl weder Pinel noch Esquirol Heilmittel für l’idiot darlegten, da beide das Leiden für unheilbar hielten, trug die Einführung der Diagnose l’idiot entscheidend zu einem tieferen Verständnis der mentalen Retardierung bei und verdeutlichte die Notwendigkeit einer heilpädagogischen Erziehung. Für nachfolgende Forscher wie Itard und Seguin schuf sie die Grundlage für weitere Entwicklungen.

 Das Konzept der „physiologischen Erziehung“, welches ursprünglich in der Annahme entworfen wurde, dass für die kognitive Entwicklung in erster Linie die Sinne erforderlich sind, hebt die Bedeutung der sensorischen Ausbildung hervor.  Diese Ansicht wurde von E. O. Seguin geteilt, der von vielen als Leitfigur dieser Strömung angesehen wird. Er betonte jedoch neben der sensorischen Ausbildung auch die Notwendigkeit körperlicher Ertüchtigung. Seguins Erziehungsmethoden waren rein physiologisch. Er glaubte daran, dass die Stimulierung des Gehirns durch eine Kräftigung der Muskeln sowie eine sensorische Ausbildung die kognitive Lernfähigkeit verbessern würde. Diese Idee – stark beeinflusst durch seinen Zeitgenossen, den Philosophen Étienne Bonnot de Condillac – wurde von anderen Forschern, darunter Maria Montessori (1870–1952), weiterentwickelt.

  Im Gegensatz zu konventionellen Ansätzen wird bei der modernen physiologischen Erziehung davon ausgegangen, dass ein gewisses Maß an Vorbereitung erforderlich ist, bevor Schüler oder Studenten ein Training in sozialer Kompetenz, eine Berufsausbildung oder eine akademische Ausbildung erhalten. Es wird betont, dass sensorisches, perzeptives und kognitives Lernen gleichermaßen wichtig ist. N. C. Kephart gilt als einer der Begründer des modernen Heilpädagogiksystems. Kephart zufolge verhindert die Unfähigkeit, wahrgenommene Informationen mit körperlichen Informationen in Einklang zu bringen, den Erwerb der Fähigkeiten, die für eine weiterführende Ausbildung erforderlich sind. Kephart führte sechs Lernphasen ein: Die grobmotorische, die motorisch-perzeptive, die perzeptiv-motorische, die perzeptive, die perzeptiv-konzeptuelle und die konzeptuelle Phase. Kephart glaubte, dass der genaue Zeitpunkt oder die Dauer der einzelnen Lernphasen nicht entscheidend sei, solange die korrekte Reihenfolge eingehalten würde. Aufgrund seiner Auffassung, die wichtigste Lernphase sei die perzeptiv-motorische, wird Kepharts Erziehungsmethode oft als „perzeptuell-motorische Prozesstheorie“ bezeichnet.

 Ein Aspekt, den Kepharts Methode vernachlässigt, ist jedoch die Tatsache, dass Kinder mit mentaler Retardierung neben Lernschwierigkeiten auch unter Problemen bei der sozialen Eingliederung leiden. Dies ist eine der Schwächen der physiologische Erziehung, die in jüngsten Jahren aufgezeigt wurden. Individuell abgestimmte Heilpädagogikprogramme mit neurophysiologischen Komponenten können die Entwicklungsstufe des Kindes präzise ermitteln, liefern jedoch nicht unbedingt ausreichende Informationen darüber, auf welche Weise dem individuellen Schüler Bildungsinhalte vermittelt werden sollten. Seit den späten 1960er Jahren konzentriert sich die Heilpädagogik verstärkt auf die Untersuchung von Lehrplänen mithilfe eines behavioristischen Ansatzes. Es ist allgemein anerkannt, dass die physiologische Erziehung allein nicht ausreicht, und dass unterstützende Maßnahmen in Form anderer Bildungsangebote, wie z. B. Verhaltenstherapie oder Sozialkompetenz-Training erforderlich sind.

 Heute lassen sich heilpädagogische Methoden in fünf Kategorien einteilen: physiologische Erziehung, soziale Adaptation, schulische und akademische Bildung, moderne physiologische Erziehung und Verhaltenserziehung. In dieser Arbeit wurden die Ursprünge und die Geschichte der Heilpädagogik erläutert, wobei der Schwerpunkt auf die physiologischen Erziehung und ihren Vor- und Nachteilen gelegt wurde. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass ein heilpädagogisches Programm für geistig Behinderte verschiedene pädagogischer Ansätze erfordert, während dabei die Bedeutung der physiologischen Erziehung nicht unterschätzt werden sollte.


Literaturnachweis


1)EBERSOLE,M., KEPHART.N.,EBERSOLE J.:STEPS TO ACHIEVEMENT FOR THE SLOW LEARNER.,Charles E.Merrill Publishing Division of Bell & Howell Company. 1968.
2)Tomas S. Ball: ITARD,SEGUIN AND KEPHART-sensory education-A Learning Interpretation. Charles E.Merrill Publishing Division of Bell & Howell Company. 1971.
3)de Condillac:Essai sur l’origine des connaissances humaines.1746.
4)de Condillac:Traité des sensations. 1754.
5)Hochmann J.: Histoire de la psychiatrie. Collection QUE SAIS JE? N01428. Presses Universitaires de France 2006.


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